
Linker Antisemitismus
Die Moralische Kolonisation
Linker Antisemitismus tarnt sich nicht mit Parolen, sondern mit Moral. Er erscheint als Kritik – und wiederholt alte Muster, wie aktuelle Vorfälle zeigen. Aber fangen wir doch mit Adorno an.
Von Lia Petridou Mittwoch, 05.11.2025, 12:56 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 05.11.2025, 12:56 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der Krieg zwischen Israel und Gaza hat die ohnehin bestehenden Bruchlinien innerhalb der deutschen Linken weiter vertieft – sowohl in der außerparlamentarischen Szene als auch innerhalb der Partei. Selbst der aktuelle Waffenstillstand hat daran wenig geändert. Die Konflikte verlaufen nicht mehr nur politisch, sondern zunehmend existenziell: Wer nicht „radikal genug“ gegen Israel auftritt, gilt mancherorts bereits als Verräter.
Beim jüngsten Bundeskongress des Jugendverbandes der Linken zeigte sich diese Entwicklung in erschreckender Deutlichkeit. Delegierte, die sich in der Vergangenheit nicht klar genug gegen Israel positioniert hatten, wurden offen angefeindet und bedroht. Auch außerhalb der Parteistrukturen eskaliert die Auseinandersetzung. In Berlin wurde ein Paar aus einem Café geworfen, weil eines der beiden ein T-Shirt mit dem hebräischen Wort für „Falafel“ trug. Die Betreiber der ProgrammSchänke Bajszel erhielten Morddrohungen, weil sie Veranstaltungen zu antisemitismuskritischen Themen planten.
Immer wieder werden solche Vorfälle mit Gruppen in Verbindung gebracht, die sich der sogenannten „Antiimperialistischen Linken“ zurechnen – inner- wie außerhalb der Partei. Dass diese Entwicklung einer moralischen Bankrotterklärung gleichkommt, lässt sich bereits bei Adorno nachlesen.
„Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“ – Theodor W. Adorno
„Linker Antisemitismus tritt zwar nicht mit biologistischen Parolen auf, kommt aber im Gewand atemlos-moralischer Dauerempörung daher.“
Linker Antisemitismus gehört zu den augenscheinlich widersprüchlichsten Erscheinungen der Gegenwart, weil er einer Haltung entspringt, die sich selbst als moralisch überlegen und universell „kritisch“ wahrnimmt. Er ist anders plump: Er tritt zwar nicht mit biologistischen Parolen auf, kommt aber im Gewand atemlos-moralischer Dauerempörung daher. Gegen Kolonialismus, gegen Unterdrückung, für Gerechtigkeit. Wer könnte da schon Nein sagen, wenn er auch auf der „richtigen Seite der Geschichte“ stehen kann?
Linker Antisemitismus ist das Symptom einer intellektuellen Selbstgefälligkeit, die die eigene Ideologiefähigkeit ausschließt. Theodor W. Adornos berühmte Diagnose beschreibt Antisemitismus als „Gerücht“, also als Form sozialer Kommunikation, die sich gegen rationale Aufklärung immunisiert. Dieses Gerücht wirkt fort – auch und gerade dort, wo rationale Kritik und emanzipatorisches Denken in Mitleidenschaft gezogen wird.
Die Kritische Theorie verstand Antisemitismus dato als ein Produkt gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, nicht als deren Ursache. Er ist eine Ideologie, die Abstraktes personalisiert und Komplexes auf Mythen reduziert. Linker Antisemitismus ist in diesem Sinne eine „Kritik mit Defiziten“. Er wendet sich zwar gegen Kapitalismus, Kolonialismus und imperiale Gewalt, bleibt in seiner Form jedoch regressiv, weil er Strukturen in Personen, Staaten oder „Kollektive“ umschreibt. Statt differenziert auf materielle Verhältnisse zu zielen, verschiebt er die Kritik an Macht auf moralisch aufgeladene Objekte – das „zionistische System“, den „imperialistischen Westen“, die „israelische Kolonialpolitik“.
Adorno und Horkheimer schrieben in der Dialektik der Aufklärung, dass Aufklärung selbst in Mythos zurückschlagen kann, wenn sie nicht auf Selbstkritik beharrt. Diese Beobachtung ist heute von erschreckender Aktualität: In globalisierten Öffentlichkeiten verschmelzen moralische Empörung und postkoloniale „Sensibilität“ zu einer neuen, symbolischen Ordnung, in der Israel als pars pro toto westlicher Gewalt erscheint. Dass diese Projektion den antisemitischen Mechanismus wiederholt – nämlich die Externalisierung eigener Schuld und Ohnmacht –, bleibt im Diskurs oft unbemerkt.
Beispiele aus der Kultur- und Wissenschaftsszene verdeutlichen diese Dynamik. In den vergangenen Jahren haben Kontroversen um Kunstausstellungen, akademische Konferenzen oder Preisverleihungen gezeigt, wie antisemitische Denkmuster in moralisch „legitimierte“ Kritik einfließen. Auf der documenta 15 etwa artikulierte sich Antisemitismus nicht in offener Feindseligkeit, sondern durch ikonographische Codes, durch die Dämonisierung Israels und die Gleichsetzung von Judentum und kolonialer Macht. Der Skandal lag nicht nur in den Bildern selbst, sondern in der intellektuellen Reaktion: der reflexhaften Verteidigung im Namen „künstlerischer Freiheit“ und „antiimperialistischer Solidarität“.
Ähnliche Muster finden sich in akademischen Kontexten, wo postkoloniale Perspektiven zunehmend zum hegemonialen Diskurs avancieren. Die von Teilen der internationalen Forschung vertretene Gleichsetzung von Zionismus und Kolonialismus unterschlägt vorsätzlich die historische Singularität des europäischen Antisemitismus und der Shoah. Sie verallgemeinert das Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten und reproduziert so letztendlich eine epistemische Hierarchie, die die jüdische Geschichte ihrer Besonderheit berauben soll. Damit verliert Kritik ihren kategorialen Kompass – sie wird moralisch totalitär, nicht aber erkenntnissuchend.
„Israel wird in diesem moralischen Schema nicht mehr als realer Staat wahrgenommen, sondern als Symbol.“
Diese moralische Absolutheit verweist auf ein tiefer liegendes Problem: den Verlust der Negativität in der linken Theorie. An die Stelle der dialektischen Auseinandersetzung tritt eine Ethik der Reinheit. Wer Kritik übt, erscheint als moralisch „rein“, wer auf Differenzen hinweist, als „kompromittiert“. Israel wird in diesem moralischen Schema nicht mehr als realer Staat – mit Geschichte, sozialen Konflikten und Ambivalenzen – wahrgenommen, sondern als Symbol. Bemerkenswert ist, dass diese Dynamik in weiten Teilen der Linken dieselbe affektive Struktur aufweist, die Adorno bereits als „autoritäre Revolte“ beschrieb: das Bedürfnis nach moralischer Eindeutigkeit als Kompensation einer komplexen, widersprüchlichen Welt.
Der linke Antisemitismus ist somit kein Randphänomen, sondern Ausdruck einer diskursiven Regression: der Flucht aus der Ambivalenz in den moralisch-totalitären Gestus. Konsequenter zu Ende gedacht, ist er somit kein „Fehler“ als vielmehr eine strukturelle Möglichkeit der Moderne selbst. Das Wiederauftreten des Mythos im Medium der Aufklärung.
Eine linke Bewegung, die diesen Widerspruch nicht reflektiert, verliert ihre geistige Integrität. Sie läuft Gefahr, die Sprache der Emanzipation zu zerstören, indem sie sie moralisch kolonisiert. Eine wahrhaft kritische Linke müsste den Begriff der Solidarität radikal neu denken – nicht als automatische Parteinahme, sondern als voraussetzungsvolle Praxis der Reflexion. Sie müsste sich idealerweise der eigenen historischen Verantwortung stellen, die Geschichte des Antisemitismus nicht als „europäisches Relikt“, sondern als universale Möglichkeitsbedingung von Ideologie begreifen.
Nur eine solche Linke könnte Adornos Forderung nach einer „Erziehung zur Mündigkeit“ erfüllen. Kritik zu üben, ohne in populistische Selbstgerechtigkeit zu verfallen; Parteilichkeit zu zeigen, ohne Differenz zu leugnen; Machtverhältnisse zu analysieren, ohne in Projektion zu flüchten. Das wäre dann keine moralische, sondern eine intellektuelle und historische Leistung – und vielleicht der einzige Weg, menschliche Emanzipation tatsächlich nachhaltiger denkbar zu halten. Die Zeit läuft. Meinung
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