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MiGAZIN Kolumnist Sven Bensmann © privat, Zeichnung MiG

Nebenan

Ein Fiebertraum

Eine absurde Geschichte, die nur so lange absurd wirkt, bis man Merz’ und Söders Rhetorik danebenlegt. Dann merkt man: So weit weg ist das alles gar nicht. Eine satirische Warnung.

Von Montag, 03.11.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 03.11.2025, 8:27 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Zuallererst muss ich heute ein Geständnis machen. Die letzte Woche hatte ich kaum Zeit zu recherchieren (Erklärung folgt), Themen aufzuspüren, die sich für diese schäbige kleine Kolumne eignen und sie dann auch noch zu schreiben.

Zwar zündelt Merz in der Stadtbilddebatte noch weiter vor sich hin und macht in bester AfD-Tradition Migration und Migranten für alle Probleme Deutschlands verantwortlich, von den hässlichen, verödeten Innenstädten (weil die Syrer halt ihr Amazon mitgebracht haben, dass dem Einzelhandel so zusetzt), über das Wetter (Deutschland wäre längst CO2-neutral, wenn es den verlausten Türkenbengeln nicht nach dem Duft von Benzin und über Kohle gegrillten Schweineschnitzeln gelüsten würde) bis hin zu geschlechtergerechter Sprache (weil das Muselmanenpack mit der patriarchalen Sprache unsere anständigen deutschen Töchter unterdrücken will) – und überhaupt, wenn nicht der Schwarzafrikaner seine Stimme immer am rechten Rand machen würde, wie schön könnte Deutschland sein.

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Eigentlich haben Merz und Söder damit bereits alles gesagt: Der Ausländer ist an allem Schuld und obendrein ist er auch noch hässlich – und deshalb muss er weg. Der Deutsche hingegen – gerade der deutsche Mann – ist grundanständig, höflich, stets akkurat gepflegt und gekleidet, spricht akzentfrei Hochdeutsch, er ist bereits in den 90ern gegen die Vergewaltigung in der Ehe engagiert gewesen, und wenn er mal Wurst isst, dann ist sie grundsätzlich immer vegan, bio und ohne Tier- oder Beschäftigtenleid fair produziert worden.

Dem lässt sich nichts hinzufügen und schon gar nicht widersprechen. Der Gegenbeweis müsste erst einmal erbracht werden. Solange muss auch niemand irgendetwas zurücknehmen, schon gar nicht der GröKaZ, der größte Kanzler aller Zeiten. Thema erledigt.

Darum habe ich mich – nach langem Hin und Her – entschlossen, heute stattdessen von einer persönlichen Anekdote zu berichten. Vielleicht kann meine Geschichte ja dem einen oder der anderen eine Warnung sein. Ich mach es auch kurz, versprochen.

„Der Ausländer ist an allem Schuld und obendrein ist er auch noch hässlich – und deshalb muss er weg. Der Deutsche hingegen…“

Am Freitag – hier bei uns ein Feiertag (nicht jeder Freitag per se natürlich, aber dieser spezifische letzte Freitag sehr wohl) – schlenderte ich entspannt den Kai entlang, lauschte dem Rauschen des herbstlich aufgepeitschten Meeres, einzelne Sonnenstrahlen brachen durch die dunklen Wolken, die mir einen nahenden Sturm androhten – ein Anblick, der mich (ohne jedes fotografische Talent, wie ich zugeben muss) dazu verführte, zum Smartphone zu greifen und einen Schnappschuss von der anderntags eher unansehnlichen Stadt am Meer zu machen.

Hier muss ich einen kurzen Einschub machen: Ich war aufgrund der Berichterstattung der Auffassung, dass die sogenannte „Chatkontrolle“ – also die Aufhebung des Briefgeheimnisses unter dem Vorwand eines angeblichen Kampfes gegen Pädosexualität zum Zwecke der Vollüberwachung der Bürger – gescheitert und Onlinekommunikation damit weiterhin halbwegs sicher sei. Um so war meine Überraschung angesichts dessen, was kurz nun folgte. Weiter im Text.

Kurz darauf wurde ich von einem Sondereinsatzkommando der Polizei aufgegriffen, das mir mein Handy entriss, mich ohne weitere Erklärung abführte und in eine kleine Zelle steckte. Mit viel Einsatz konnte mein Anwalt in Erfahrung bringen, dass es wohl darum ginge, dass man mein Foto kenne und ich unzweifelhaft „das Stadtbild verschandelt“ habe. Im Zuge der stante pede eingeleiteten Untersuchung hätten sich zudem familiäre Wurzeln nach Ostpreußen ermitteln lassen. Auch wenn das Gebiet damals zum Deutschen Reich gehört habe, wolle man nun intensiv prüfen, ob es nicht möglich sei, mir die deutsche Staatsbürgerschaft abzuerkennen, um mich nach Polen, besser sogar nach Russland, also dahin, wo ich „hingehöre“, abzuschieben. Dann war Funkstille.

Diese Untersuchung zog sich offensichtlich eine Weile, in der ich weiter in U-Haft festsaß und mir auch mein Smartphone natürlich nicht wieder ausgehändigt wurde. So war es weder möglich, die aktuelle Weltlage zu verfolgen, noch Notizen für den heute anstehenden Text zu machen.

Erst als es meinem Vater gelang, unwiderlegbare Beweise für die Beteiligung mittlerweile verstorbener Familienangehöriger am verbrecherischen Vernichtungskrieg der Nazis aufzutreiben, ließen mich die Beamten mit dem Hinweis, ich sei ja doch „einer von den Guten“ wieder gehen. Erleichtert, aber zutiefst traumatisiert, musste ich mich daraufhin erst einmal wieder fangen. Was für eine Welt.

Später, damit mir so etwas nicht noch einmal passiert, habe ich mich erst einmal informiert, wie (Pädo-)Kriminelle eigentlich kommunizieren, denn die wird man mit der sogenannten „Chatkontrolle“ natürlich nicht erwischen – die Illusion macht sich sicherlich auch niemand. Die „Chatkontrolle“ zielt ab auf diejenigen, die sich um ihre elektronische Kommunikation keine großen Gedanken machen. Sie wissen schon: Unschuldige.

Viel Zeit blieb dann nicht mehr.*

*Die Handlung und vorkommenden Personen sind teilweise frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht zufällig und tendenziell beabsichtigt. (dpa/mig) Meinung

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