
Wehret den Anfängen
Nimm Faschismus ernst!
Während in den USA demokratische Strukturen unter Druck geraten, wächst auch in Deutschland die Sorge vor einer schleichenden Faschisierung. Die Demokratie zerfällt nicht plötzlich – sie erodiert im Alltag.
Von Jannis Eicker Mittwoch, 08.10.2025, 11:34 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.10.2025, 11:34 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
Mit großer Sorge lese ich täglich die Nachrichten aus den USA. Denn was wir dort sehen, muss meines Erachtens als Faschisierung beschrieben werden, also als ein Prozess, in dem sich immer mehr faschistische Elemente in Staat und Gesellschaft durchsetzen. Am Ende dieses Prozesses könnte die vollständige Etablierung eines neuen faschistischen Regimes stehen. Ob dieses Worst-Case-Szenario tatsächlich eintreten wird oder ob die aktuelle Tendenz gestoppt oder gar umgekehrt werden kann, hängt von vielen Faktoren ab, etwa ob es gelingt, demokratischen Widerstand in Staatsapparaten und der Zivilgesellschaft zu organisieren. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, allerdings werden die Möglichkeiten für Widerstand innerhalb des Landes im Laufe des Faschisierungsprozesses zunehmend kleiner.
Beim Lesen der Nachrichten aus Deutschland weicht die Sorge über die Entwicklungen in den USA dann immer öfter einem Erschrecken über die Parallelen, die sich hierzulande zunehmend entdecken lassen. Dies wirft die Frage auf, ob auch in Deutschland schon von einer Faschisierung gesprochen werden kann. Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich zunächst einmal davon ab, was man unter Faschismus versteht. Die Definition des Faschismusbegriffs ist stark umstritten, wie die andauernde Diskussion zur Faschismustheorie zeigt. Der Einfachheit halber möchte ich mich im Folgenden auf die Definition vom britischen Historiker Roger Griffin beziehen, die als besonders einflussreich gilt.
Sehr grob zusammengefasst versteht Griffin unter Faschismus einen revolutionären Ultranationalismus, also eine absolute Vorrangstellung der (ethnisch homogen und stark hierarchisch verstandenen) Nation, die mittels ‚Reinigung‘ störender Elemente (notfalls gewaltsam) vor Dekadenz und Verfall gerettet werden soll. Dass Donald Trumps ‚Make America Great Again‘-Bewegung diese Kurz-Definition erfüllt, liegt meines Erachtens auf der Hand: ‚MAGA‘ will die amerikanische Nation zu vermeintlich verlorengegangener Größe zurückzuführen, und zwar u. a. indem man Minderheiten ihrer Rechte, Andersdenkenden ihres Einflusses, Migrant*innen ihres Aufenthaltsrechts und queerer Menschen ihrer Identität beraubt.
Um diese fast religiös-fanatische Mission nationaler ‚Wiedergeburt‘ durchsetzen zu können, ist zunehmend jedes Mittel recht, selbst wenn dafür demokratische Grundprinzipien wie etwa die Gewaltenteilung geschleift oder Grund- bzw. Menschenrechte eingeschränkt werden müssen. Dass Trump die Demokratie verachtet, sollte spätestens klar geworden sein, als er trotz klarer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen von 2020 mit rechtswidrigen Mitteln versuchte, im Amt zu bleiben. Seit seinem zweiten Wahlsieg setzen er und seine Gefolgsleute alles daran, eine erneute Wahlniederlage der Bewegung zu verhindern, indem sie große Teile der Staatsapparate unter ihre Kontrolle bringen und in ihrem Sinne instrumentalisieren. Auch bei den Jagden auf vermeintlich ‚illegale‘ Migrant:innen und deren Abschiebungen bleiben rechtsstaatliche Prinzipien längst auf der Strecke. Dasselbe gilt für die oft erfolgreichen Einschüchterungsversuche der Regierung gegenüber ‚liberalen‘ Städten, Unternehmen, Medien und Einzelpersonen. Dass jüngst auch die Führungsriege des US-Militärs von Trump auf einen Krieg im Inneren eingeschworen wurde, lässt eine weitere Eskalation dieser Dynamik befürchten.
„Für den demokratischen Widerstand ist es zentral, den Ernst der Lage möglichst frühzeitig zu erkennen, um Gegenstrategien entwickeln zu können.“
Doch trotz dieser sich fast täglich mehrenden Hinweise auf eine Faschisierung des angeblichen ‚Land of the Free‘ wird hierzulande erstaunlich wenig über diese Entwicklung gesprochen. Dass der Faschismusbegriff dabei vermieden wird, dürfte u. a. damit zusammenhängen, dass er in Deutschland in der Regel als Synonym für den Nationalsozialismus verstanden und genutzt wird. Spricht man in Bezug auf andere Bewegungen oder Regime von Faschismus, gerät dies dementsprechend schnell in den Verdacht der Verharmlosung des Nationalsozialismus. Dabei wird allerdings übersehen, dass der Faschismus in der Wissenschaft in der Regel als ein analytischer Oberbegriff für ein Phänomen gilt, das historisch und geografisch verschiedene Formen angenommen hat (man denke etwa an den Ursprung des Begriffs, den italienischen Faschismus) und das heute selbstverständlich anders aussieht als die historischen Vorläufer.
Zweitens wird übersehen, dass zwischen dem Faschismus in seiner Entstehungs- bzw. Bewegungsphase und dem voll entwickelten Herrschaftssystem unterschieden werden muss. Selbst wenn eine in Teilen faschistische Bewegung in den USA an der Macht ist, sind die faschistischen Elemente meines Erachtens derzeit noch nicht dominant. Die Staatsapparate besitzen aufgrund ihrer Eigenlogiken eine gewisse Trägheit gegenüber radikalen Veränderungen und müssen mühsam auf Linie gebracht werden. In der Zivilgesellschaft ist dies noch einmal deutlich schwerer, da die Regierung keinen direkten Zugriff auf diese hat, sondern ‚nur‘ indirekt wirken kann. Zwar konnte die MAGA-Bewegung sowohl in den Staatsapparaten als auch der Zivilgesellschaft inzwischen einige große Erfolge erzielen (etwa die Etablierung des extremsten Supreme Courts in der Geschichte des Landes und das Einknicken einiger Medienhäuser, Rechtsanwaltskanzleien und Universitäten), doch stoßen ihre Versuche an anderen Stellen auch immer wieder an Grenzen (zuletzt etwa die missglückte Absetzung des berühmten Late-Night-Hosts und MAGA-Kritikers Jimmy Kimmel). Zentrale demokratische Strukturen und Verfahren haben zwar bereits einigen Schaden genommen, bieten derzeit aber noch Spielraum für eine politische Umkehrung der Entwicklungen. Für den demokratischen Widerstand ist es dabei zentral, den Ernst der Lage möglichst frühzeitig zu erkennen, um Gegenstrategien entwickeln zu können.
„Wenn wir tatsächlich aus der Geschichte lernen wollen, sollten wir den Begriff des Faschismus deshalb ernst nehmen.“
Dies gilt natürlich auch für Länder, in denen die Verhältnisse noch lange nicht so weit fortgeschritten sind wie in den USA. Wenn wir tatsächlich aus der Geschichte lernen wollen, sollten wir den Begriff des Faschismus deshalb ernst nehmen und nicht davor zurückschrecken, seine Anwendbarkeit auch heute schon kritisch zu prüfen. Denn auch wenn die deutsche Variante des Faschismus, der Nationalsozialismus, 1945 militärisch besiegt wurde, war er – entgegen des Mythos einer ‚Stunde Null‘ – nie vollkommen verschwunden. Stets gab es faschistische Kräfte, denen es allerdings lange Zeit nicht gelang, allzu großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen.
Dies ist spätestens seit den Wahlerfolgen der ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD) anders. Die AfD ist zwar nicht in Gänze faschistisch, doch der faschistische Flügel um Björn Höcke ist nun schon einige Jahre in der Partei tonangebend. Dies lässt sich daran erkennen, dass viele Forderungen der AfD und Aussagen aus ihrer Führungsriege letztlich auf eine Vorrangstellung einer völkisch konstruierten Nation gegenüber zentralen demokratischen bzw. rechtsstaatlichen Prinzipien hinauslaufen. So inszeniert die Partei kontinuierlich vermeintliche Interessengegensätze zwischen einer angeblich homogenen deutschen Mehrheitsgesellschaft und Gruppen wie Geflüchteten, Muslim:innen, queeren Menschen, Linken und Grünen, Umwelt-NGOs und anderen mehr. Sie spricht diesen Gruppen bzw. Menschen dabei nicht nur regelmäßig die Zugehörigkeit zur Nation ab oder stellt sie als ihre Feind:innen dar, sondern stellt immer wieder ihre Grund- und Menschenrechte infrage. Zu vielen im Grundgesetz festgelegten Normen (wie der Unantastbarkeit der Menschenwürde, dem Gleichheitsgrundsatz bzw. Diskriminierungsverbot oder der Religionsfreiheit) steht die AfD damit in einem recht klaren Widerspruch.
„Die angeblichen ‚Mitte‘-Parteien erwecken immer mehr den Eindruck, dass zentrale Verfassungsprinzipien für sie nur ein Hindernis sind.“
Zum Glück ist es der AfD bisher nicht gelungen auf Landes- oder gar Bundesebene Regierungsverantwortung zu übernehmen. Und dennoch zeigt sich der Einfluss der Partei bereits gewaltig, besonders in der Asylpolitik. Spätestens seit der großen Fluchtzuwanderung 2015/2016 ist es der AfD gelungen, die anderen Parteien in der Asylpolitik vor sich herzutreiben. Im Glauben, durch eine möglichst harte Asylpolitik Wähler*innen von der AfD zurückgewinnen zu können, rückten die anderen Parteien nicht nur deutlich nach rechts, sondern stellten dabei mitunter auch selbst grundlegende demokratisch-rechtsstaatliche Prinzipien infrage, wie etwa bei Forderungen nach Obergrenzen für Asylgesuche, bei Zurückweisungen von Asylsuchenden oder beim Versuch, bereits getätigte Aufnahmezusagen für afghanische Flüchtlinge wieder rückgängig zu machen. Die angeblichen ‚Mitte‘-Parteien erwecken immer mehr den Eindruck, dass zentrale Verfassungsprinzipien für sie nur ein Hindernis sind, das sie irgendwie umgehen oder überwinden müssten und leisten damit der Delegitimierung der Grundlagen unserer Demokratie selbst Vorschub.
Doch die Erfolge der AfD sind keineswegs auf die Asylpolitik begrenzt. Auch in anderen Politikfeldern (etwa der Sozial- und Klimapolitik) lassen sich viele der anderen Parteien die Richtung von der AfD diktieren. Besonders eindrücklich stellte die extreme Rechte ihren Einfluss auf die Politik jedoch in der erfolgreichen Desinformtionskampagne gegen die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin unter Beweis. Obwohl es an der fachlichen Eignung von Brosius-Gersdorf in Fachkreisen keine begründeten Zweifel gibt, gelang es (extrem) rechten Kräften mittels Falschbehauptungen und Verzerrungen so viel Misstrauen an ihrer Person zu säen, dass die Wahl letztlich platzte. Ziel war ganz offensichtlich die Delegitimierung des Verfassungsgerichts, um zukünftig politisch unliebsame Entscheidungen dieser Institution (z. B. in einem möglichen AfD-Verbotsverfahren) besser angreifen zu können.
Ein zentraler Akteur dieser Kampagne war das vom Milliardär Frank Gotthardt finanzierte Onlinemedium NiUS, als dessen Vorbild der US-amerikanische ‚Nachrichtensender‘ Fox News gilt, das viele Jahre als zentrales Sprachrohr von Trump agierte und für die Verbreitung von Falschinformationen bekannt ist. Dass Teile der Union (wie etwa die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner) die Nähe zu Gotthardt und NiUS suchen, ist vor diesem Hintergrund äußerst bedenklich, stellt aber leider nur einen von vielen Hinweisen darauf dar, dass sich die Union zunehmend einem kulturkämpferischen Politikstil zuwendet, in dem Fakten und Sachlichkeit immer weniger zählen.
Besonders deutlich wurde dies etwa, als Friedrich Merz fälschlicherweise behauptete, abgelehnte Geflüchtete würden zu Terminproblemen in Zahnarztpraxen führen. An solchen Beispielen lässt sich zudem erkennen, dass die Union sich eine zentrale Taktik der AfD zu eigen gemacht hat, nämlich Minderheiten für Probleme verantwortlich zu machen, die eigentlich struktureller Natur sind. So begründete die AfD ihre Ablehnung gegenüber der Aufnahme von Geflüchteten schon 2015 auch damit, dass man das Geld für deren Verpflegung, Unterbringung und Integration lieber z. B. in Schulen oder Polizei stecken sollte. Dabei liegt der Grund der Unterfinanzierung öffentlicher Güter natürlich nicht in der Aufnahme von Geflüchteten (und übrigens auch nicht in einem angeblich zu großzügigen Bürgergeld), sondern vor allem in einer neoliberalen Fiskalpolitik, die den Staat durch die gleichzeitige Ablehnung von Staatsschulden und höheren Steuern für Reiche faktisch in die Handlungsunfähigkeit treibt. Im Alltag machen sich die infolge dieser Politik fehlenden öffentlichen Investitionen an allen Ecken und Enden bemerkbar und führen zu Missständen und Konflikten, für die dann Sündenböcke gesucht und in Minderheiten gefunden werden.
„Der beste Schutz gegen die Faschisierung dürfte jene Politik sein, die das Verfallsnarrativ der Rechten Lügen straft.“
Diese Annäherung von Union und anderen Parteien an die AfD ist unter anderem eine Folge der wirkmächtigen Figur des ‚besorgten Bürgers‘, dessen ‚Sorgen‘ von den demokratischen Kräften ernst genommen werden müssten, damit er nicht gezwungen wäre, der extremen Rechten seine Stimme geben zu müssen. Dementsprechend haben fast alle Parteien auf das Erstarken der AfD mit einer partiellen Übernahme von AfD-Positionen und -Rhetorik reagiert, in der Hoffnung, ihr so die Wähler*innen streitig machen oder ihr wenigstens den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Das hat zwar zu menschen- und verfassungsrechtlich höchst bedenklichen Politiken geführt, aber dem Erfolg der AfD nicht nur nicht geschadet, sondern diesen sogar ganz offensichtlich noch weiter befördert. So steht die AfD heute dank der kulturkämpferischen Politik und Rhetorik von Friedrich Merz und Co. stärker da als je zuvor.
Dies bedeutet aber natürlich noch lange nicht, dass uns amerikanische Verhältnisse kurz bevorstünden. Und auch in den USA gibt es, wie gesagt, nach wie vor die Möglichkeit, dass der aktuelle Trend wenigstens gestoppt oder sogar umgekehrt wird. All dies zeigt jedoch, dass wir uns nicht in Sicherheit wiegen dürfen, sondern wachsam sein und jeden Angriff auf die Grundlagen unserer Demokratie abwehren müssen. Politiker*innen müssten also wieder Fakten und Rechtsstaatlichkeit zum Ausgangspunkt ihres Handelns und ihrer Rhetorik machen. Ihre Aufgabe besteht schließlich nicht darin, dem Stammtisch hinterherzulaufen, sondern Probleme faktenbasiert zu analysieren, zu erklären und im Interesse der Allgemeinheit unter Beachtung der Grund- und Menschenrechte zu bearbeiten. Der beste Schutz gegen die Faschisierung dürfte dabei jene Politik sein, die das Verfallsnarrativ der Rechten Lügen straft, indem sie klug in öffentliche Güter investiert und eine echte Teilhabe aller am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand ermöglicht. (mig) Meinung
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