Berlin, Straße, Mohrenstraße, Anton-W.-Amo-Straße, Rassismus, Kolonialismus
Die M*-Straße mit dem Anton-W.-Amo-Straße überklebt (Archiv) © Emmanuele Contini/AFP

Mehr als nur ein Name

Die Anton-Wilhelm-Amo-Straße

Die Berliner M*-Straße heißt nun offiziell Anton-Wilhelm-Amo-Straße. Hinter dieser Umbenennung steckt weit mehr als Symbolik: Es geht um Rassismus, koloniales Erbe und die Frage, wer Geschichte erzählen darf.

Von Sonntag, 17.08.2025, 11:08 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 17.08.2025, 11:08 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Die Debatte um die Berliner M*-Straße ist längst mehr als eine Namensfrage. Sie ist Ausdruck einer grundlegenden Auseinandersetzung mit kolonialem Erbe, Sprache und Verantwortung. Begriffe wie das M-Wort oder das N-Wort sind keine neutralen historischen Relikte, sondern Bestandteile eines kolonial-rassistischen Systems, das Schwarze Menschen über Jahrhunderte hinweg kategorisiert, entmenschlicht und entindividualisiert hat. Für viele Schwarze Menschen gehören diese Begriffe nicht der Vergangenheit an – sie sind Teil eines alltäglichen Rassismus, der unter dem Deckmantel vermeintlicher Tradition fortwirkt.

Der Widerstand dagegen ist nicht neu – auch nicht in Berlin: Die Umbenennung der M*-Straße in Berlin-Mitte ist nicht nur eine Reaktion auf aktuelle gesellschaftliche Debatten – sie ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Einsatzes Schwarzer Communities in Deutschland. Allen voran steht hier die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), die bereits 1985 gegründet wurde und seither eine zentrale Rolle in der rassismuskritischen Arbeit, politischen Selbstorganisation und Sichtbarmachung Schwarzer Menschen spielt.

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Die Berliner Bezirksverordnetenversammlung beschloss im August 2020, die M*-Straße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße umzubenennen – ein bewusster Akt gegen koloniale Kontinuitäten im Stadtraum. Amo, ein Philosoph aus dem heutigen Ghana, lehrte im 18. Jahrhundert an deutschen Universitäten und war die erste bekannte Person afrikanischer Herkunft mit akademischer Laufbahn in Deutschland. Die Entscheidung für seinen Namen markiert einen erinnerungspolitischen Perspektivwechsel – hin zur Sichtbarmachung Schwarzer Geschichte, Leistung und Widerstandskraft.

Trotz massiver Gegenwehr – etwa durch Klagen von Anwohnenden und Kritik von Einzelpersonen – blieb die politische Entscheidung bestehen. Ausschlaggebend war die Einsicht, dass der M-Begriff, ungeachtet seiner historischen Herleitung, im heutigen Sprachgebrauch als rassistisch gilt. Straßennamen sind keine neutralen Marker, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Werte und Machtverhältnisse – und müssen daher kritisch überprüft werden.

Im Juli 2025 bestätigte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg das Urteil endgültig. Mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung am 18. Juli 2025 ist die Entscheidung rechtskräftig: Die Straße trägt nun offiziell den Namen Anton-Wilhelm-Amo-Straße. Und das Warten hat ein Ende: Am 23. August 2025 wird die Anton-Wilhelm-Amo-Straße am Berliner Hausvogteiplatz feierlich eingeweiht – an einem Tag, der wie kaum ein anderer für eine komplexe und verantwortungsbewusste Erinnerungskultur steht: Internationaler Tag zur Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel und seine Abschaffung sowie Europäischer Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus.

Diese doppelte Verortung macht deutlich: Erinnerung ist niemals eindimensional. Sie ist multidirektional – sie verbindet Geschichten von Versklavung, Kolonialismus, Diktatur, Widerstand und Überleben. Sie ist getragen von einem Verantwortungsgedanken, der historische Gewalt anerkennt – und zugleich die gesellschaftlichen Bedingungen von heute mit in den Blick nimmt: Fragen von Zugehörigkeit, Migration und Gerechtigkeit. Die Einweihung dieser Straße ist kein Schlussstein, sondern ein Schritt – hin zu einem Erinnern, das solidarisch, vielfältig und zukunftsgerichtet ist. Ein Erinnern, das fragt: Was bedeutet Verantwortung in einer von Migration geprägten Gesellschaft – und wie erzählen wir ihre Geschichte neu?

Dekolonisieren heißt dezentralisieren

Nach der globalen Pandemie, nach den rechtsradikalen Angriffen in Hanau, Halle und den Black-Lives-Matter-Demonstrationen von 2020 ist das Bewusstsein für Rassismus und Kolonialgeschichte gewachsen. Vieles hat sich bewegt – insbesondere in Berlin. Dort wird dekoloniale Bildungsarbeit sichtbar gefördert, akademisch eingebunden und medial begleitet. Doch genau darin liegt ein blinder Fleck: Die starke Fokussierung auf Berlin birgt das Risiko einer neuen „Dekolonisierung von oben“ – mit Vorzeigeprojekten dort, wo Ressourcen, Hochschulen und Kulturinstitutionen bereits vorhanden sind. Währenddessen geraten kleinere Städte mit langjährigem Engagement aus dem Blick – ihre Arbeit bleibt oft prekär, marginalisiert, ungesehen.

Dabei gibt es genau dort – in Halle, Jena, Wolfenbüttel, Braunschweig oder Göttingen – seit Jahren konkrete Auseinandersetzungen mit kolonialer Geschichte und mit der Person Anton Wilhelm Amo, fest verankert in Stadt-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte. Gerade in Halle ist die Erinnerung an Amo kein symbolischer Akt – sie ist gelebte Geschichte. Amo studierte, lehrte und lebte hier. Sein Denken gehört zur deutschen Philosophiegeschichte. Seine Biografie wirft zentrale Fragen auf: Wer gilt als Teil deutscher Geschichte? Wer hat Zugang zu Bildung, zu Sichtbarkeit, zu Anerkennung?

Die Arbeit von Initiativen wie Halle Postkolonial und das Amo Büdnis Halle sind deshalb nicht nur erinnerungspolitisch bedeutsam. Sie ist Ausdruck eines lokalen Widerstands gegen das Vergessen. Und sie braucht strukturelle Förderung, institutionelle Anbindung und politische Anerkennung auf Augenhöhe. Dekoloniale Bildungsarbeit ist keine „Ergänzung“ zur Erinnerungskultur – sie ist ihr Prüfstein. Sie fragt nicht nur: Was war? Sondern: Was bedeutet das heute – für uns alle?

Wie ernst meinen wir es mit der Dekolonisierung – wenn wir sie nur dort sichtbar machen, wo sie in bestehende Strukturen passt? Ein Blick auf verschiedene Städte zeigt: Die Erinnerung an Amo ist kein Selbstläufer. In Halle wurde die Umbenennung durchgesetzt, in Jena scheiterte sie am Widerstand der Stadtgesellschaft, in Wolfenbüttel war eine Randlage für die Straße geplant, in Braunschweig fehlt bisher die Debatte – hier hält jedoch das lokale Amo-Bündnis die Erinnerung wach. Diese ungleichen Zugänge zeigen Schieflagen – aber auch Potenzial. Sie eröffnen Raum für „critical fabulation“ (Saidiya Hartman): ein Erzählen gegen das Vergessen, das Unsicherheit zulässt – und Haltung zeigt.

Deshalb ist es Zeit für eine ehrliche Standortbestimmung: Trauen wir lokalen Akteur:innen tatsächliche Expertise zu? Oder halten wir an einer symbolischen Zentrierung fest, die alten Machtverhältnissen neue Sprache gibt?

Es geht darum, das narrative Vakuum zu füllen, das bis heute in Bezug auf Amo existiert. Die wenigsten Menschen – auch in postmigrantischen Communities – wissen, wer Amo war, was er geleistet hat und warum seine Geschichte heute von Bedeutung ist. Dieses Nichtwissen ist Resultat einer Erinnerungskultur, die Biografien wie die seine systematisch ausgeblendet hat. Wenn wir über Anton Wilhelm Amo sprechen, sprechen wir über das strukturelle Unsichtbarmachen Schwarzer Geschichte in Deutschland – und über die Notwendigkeit, dieses Erbe zu hinterfragen und sichtbar zu machen. Bildungsarbeit ist dabei nicht Begleitmusik, sondern Fundament nachhaltiger Erinnerungspolitik.

Warum die Erinnerung an Amo allen zugänglich sein muss

Wer hat das Recht, Geschichte zu erzählen? Diese Frage bestimmt, wer in öffentlichen Debatten gehört wird, wessen Perspektive als „wissenschaftlich“ gilt und wessen Erinnerung als „emotional“ oder „aktivistisch“ abgetan wird. Viele weiße Akademiker der Nachkriegszeit verstanden ihre Arbeit als „objektiv“, ohne ihre kolonialen Verstrickungen zu reflektieren. Sie forschten über Amo – aber nicht mit ihm, nicht aus seiner Perspektive. Diese Form der Erinnerung folgt einem paternalistischen Muster: Amo wird als faszinierende Ausnahmefigur dargestellt – aber entpolitisiert. Sein Denken wird gewürdigt, aber nie als Herausforderung verstanden. So entsteht Besitzdenken.

Gegen dieses Besitzdenken setzen wir bewusst den Begriff der Erbschaft. Erbschaft ist nicht nur materiell, sie ist auch immateriell – sie betrifft das Denken, das Weitergeben, das Verändern. Wer von Erbschaft spricht, erkennt an, dass Erinnerung nicht abgeschlossen ist. Erbschaft verpflichtet: Sie verlangt, Leerstellen zu benennen, Narrative zu hinterfragen, Verantwortung zu übernehmen. Erinnerung entsteht nicht allein „von oben“, durch staatliche Anerkennung oder wissenschaftliche Deutung. Es braucht das Erinnern „von unten“ – zivilgesellschaftlich, dezentral, widerständig.

Die Anton Wilhelm Amo-Erbschaft wurde 2018 gegründet. Sie entstand aus dem Bedürfnis heraus, die Erinnerung an Amo aus marginalisierten, lokalen, oft unsichtbaren Räumen heraus zu beleben. Orte wie Braunschweig, Jena oder Halle, wo Amo gewirkt hat, aber auch internationale Verbindungen – etwa nach Ghana, wo Dr. Kwame Nkrumah Amo bereits in den 1960er Jahren als panafrikanische Figur ins kollektive Gedächtnis rief. Amo ist nicht nur eine afrodeutsche, sondern eine panafrikanische Erinnerungsfigur. In Reaktion auf die globalen Proteste 2020 wurde ein Manifest beschlossen, das unser Selbstverständnis formuliert: Erinnern ist nicht nur Rückblick, sondern Gegenwartsgestaltung. Wir arbeiten intersektional, dialogisch und dezentral. Bildungsarbeit darf nicht nur in Universitäten passieren. Sie muss dort stattfinden, wo Menschen leben, arbeiten, Erfahrungen teilen – jenseits akademischer Räume, in Schulen, auf der Straße, in Stadtteilen, im Theater, in sozialen Medien. Erinnern muss mehrstimmig sein.

Ein Problem dabei: Viele Schwarze Menschen haben keinen Zugang zu Archiven. Erinnerungskultur basiert aber oft auf genau diesen Archiven – auf dem Besitz von Materialien, von Dokumenten, von Dingen. Dass manche Perspektiven als „nicht belegt“ gelten, liegt nicht daran, dass sie nicht existieren, sondern daran, dass ihnen der Zugang verwehrt wurde. Das Programm der Initiative Anton Wilhelm Amo-Erbschaft – im Kernteam die kleineren postkolonialen Initiativen rund um Amo – versteht sich deshalb nicht als Verwahrerin eines „Bildes“, sondern als Raum für plurale, widerständige Erinnerung. Wir setzen auf Verantwortung statt Besitz, auf Offenheit statt Ausschluss, auf Verknüpfung statt Vereinzelung. Wir verstehen uns als Gegenarchiv: Wir sammeln Stimmen, Erfahrungen, Spuren – nicht im Sinne eines klassischen Archivs, sondern als lebendiges, sich entwickelndes Gedächtnis.

Der Samstag, 23. August 2025, ist nicht nur symbolisch, sondern programmatisch: das digitale Amo-Erbschaftsarchiv wird eröffnet. Stimmen, Materialien und Perspektiven leben davon, dass viele mitschreiben und Geschichte nicht abgeschlossen ist. Erinnerung ist kein Besitz. Amo gehört nicht wenigen – sondern vielen. Die Verantwortung, mit seiner Geschichte umzugehen, liegt nicht allein bei Historiker:innen. Sondern bei uns allen.

Die Erinnerung an Amo ist kein abgeschlossenes Kapitel – sondern eine Einladung zur Veränderung. Meinung

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