
Gaza
Wenn Menschlichkeit verstummt
Was sich in Gaza abspielt, ist kein Krieg mehr – es ist ein Prüfstein für die Menschlichkeit. Und Deutschland? Schaut zu, schweigt, taktiert. Ein emotionaler Aufschrei gegen das Verstummen.
Von Nasim Ebert-Nabavi Dienstag, 29.07.2025, 13:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 29.07.2025, 13:23 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
Das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza hat ein neues Ausmaß erreicht. Häuser sind zu Staub geworden, Kinder zu Zahlen, humanitäre Hilfe zu einem Politikum. Es ist nicht mehr nur ein Versagen der Diplomatie. Es ist ein Verrat an den Grundsätzen, die wir zu verteidigen vorgeben. Natürlich: Der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 war ein brutaler Bruch des Völkerrechts – mit Massakern an Zivilist:innen, Geiselnahmen und gezieltem Terror gegen die israelische Bevölkerung. Dieser Angriff hat unermessliches Leid ausgelöst und ist durch nichts zu rechtfertigen.
Doch was sich seither im Gazastreifen abspielt, geht weit über das hinaus, was als Selbstverteidigung gelten kann. Es ist nicht mehr nur ein Versagen der Diplomatie. Es ist ein Verrat an den Grundsätzen, die wir zu verteidigen vorgeben. Die israelische Regierung verweigert lebenswichtige Versorgung, blockiert Medikamente, Wasser, Nahrung – und mit jedem Tag wird das stille Sterben lauter. Israel muss seinen Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht nachkommen. Und Deutschland? Deutschland schaut zu. Deshalb müssen wir uns fragen:
Wie viele hungernde Kinder, bombardierte Schulen, gestürmte Hilfszentren und Angriffe auf WHO- Einrichtungen sowie humanitäre Zonen der Verteilstellen für Hilfsgüter braucht es noch? Wie viele eindringliche Appelle internationaler Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Medico International oder Amnesty International müssen wir noch hören, bevor Deutschland endlich das lähmende Schweigen bricht, und klar Position bezieht? Wie lange wollen wir noch zuschauen, wie das Völkerrecht in Echtzeit zerfällt? Wie oft wollen wir noch „humanitäre Umsiedlung“ sagen, wenn wir Vertreibung meinen? Es ist Zeit, den Schleier der diplomatischen Höflichkeit zu zerreißen. Was sich im Gazastreifen abspielt, ist kein Krieg mehr. Es ist ein organisiertes, völkerrechtswidriges Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die Illusion von Schutz
Zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser, eingekesselt in einem Landstrich, der zum Freiluftgefängnis geworden ist. Die israelische Regierung plant, sie in einer sogenannten „humanitären Stadt“ im Süden des Gazastreifens zu konzentrieren. Diese Stadt – wenn man das überhaupt so nennen darf – ist ein Lager. Umgeben von Militär, ohne Schutz, ohne Rückweg. Die Menschen sollen dorthin, nicht weil sie wollen, sondern weil sie keine Wahl mehr haben. Das ist kein Schutzraum. Das ist Vis absoluta – Zwang unter Drohung. Wer das nicht erkennt oder nicht erkennen will, steht nicht am Rand, sondern wird Teil der Verantwortung.
Deutschlands Schweigen
Deutschland? Schweigt. Und stellt sich damit außerhalb dessen, was ein Staat, der sich zur regelbasierten Ordnung bekennt, einlösen müsste: bei schweren Menschenrechtsverletzungen nicht neutral zu bleiben, sondern entschlossen zu handeln. Als Vertragsstaat der Genfer Konventionen und der UN-Charta ist Deutschland verpflichtet, Völkerrechtsbrüche zu benennen und ihnen entgegenzutreten. Dies gilt umso mehr, da der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) am 21.
November 2024 internationale Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen hat. Deutschland bekennt sich in offiziellen Erklärungen zur Unterstützung des Gerichts, doch politische Konsequenzen bleiben aus. Der Haftbefehl gegen Netanjahu wird weder begrüßt noch zum Maßstab diplomatischen Handelns gemacht. Die fortgesetzte politische Nähe wirft grundlegende Fragen auf – nicht nur zur Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik, sondern zur Glaubwürdigkeit unseres Anspruchs auf eine internationale Ordnung, die auf Recht und Verantwortung beruht. Das Schweigen Deutschlands ist in diesem Kontext nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich untragbar. Doch stattdessen reist Innenminister Alexander Dobrindt nach Israel und reicht die Hand einem Regierungschef, der unter dem Vorwurf schwerster Völkerrechtsverbrechen international gesucht wird. Ein Bild, das in seiner Symbolkraft kaum zu überbieten ist: Statt den Rechtsbruch zu benennen, wird politische Verbundenheit inszeniert. Statt Distanz zu wahren, wird demonstrative Nähe geübt. Wer so handelt, entwertet den Anspruch auf eine wertegeleitete Außenpolitik. „Staatsräson“ wird zur rhetorischen Tarnkappe, unter der diplomatische Doppelmoral gedeiht. Menschenrechte, einst universelles Versprechen, verkommen zum taktischen Element – abrufbar, wenn sie nützen; ausblendbar, wenn sie stören.
Internationale Kritik – und deutsche Zögerlichkeit
Dabei wächst der internationale Druck auf Israel. Eine von Großbritannien initiierte Erklärung, die unter anderem von Frankreich, Italien, Australien und insgesamt 28 weiteren Staaten unterzeichnet wurde, fordert ein sofortiges Ende des Krieges in Gaza und prangert die katastrophale humanitäre Lage an. Die Erklärung mahnt die Einhaltung des Völkerrechts an und verurteilt die systematische Verwehrung humanitärer Hilfe als Angriff auf die Menschenwürde. Deutschland hat sich dieser Initiative nicht angeschlossen, zum Unverständnis vieler.
Die SPD-Fraktion, Teil der Regierungskoalition, verlangt einen Kurswechsel in der deutschen Israel- Politik. Sie fordert das Kabinett auf, sich dem Gaza-Friedensappell anzuschließen, die ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen fordern und die Blockade humanitärer Hilfe durch Israel als völkerrechtswidrig kritisieren. Die Kritik richtet sich direkt an das Kanzleramt und verdeutlicht: Selbst innerhalb der Koalition wächst der Druck, das Völkerrecht nicht länger politischen Rücksichten unterzuordnen.
Zwar hat Bundeskanzler Merz das Vorgehen Israels zuletzt als „nicht mehr akzeptabel“ bezeichnet. Bei einer Pressekonferenz am Dienstag sagte er, er fordere die israelische Regierung „jetzt wirklich mit großem Nachdruck“ auf, die Angriffe zu stoppen und humanitäre Hilfe für die Bevölkerung zu ermöglichen. Gleichzeitig erklärte er, man könne nicht mehr tun, als mit der israelischen Regierung zu sprechen. Doch ist das wirklich so? Auch Außenminister Wadephul sprach zwar von seiner „größten Sorge“ über die Eskalation – aber reicht Sorge allein, angesichts der täglichen Gräuel?
Reicht es, betroffen zu sein, wenn man handeln könnte? Deutschland hätte sehr wohl konkrete Möglichkeiten, um politischen Druck aufzubauen, jenseits bloßer Appelle:
- Ein vollständiges Waffenembargo gegen Israel.
- Die Aussetzung des Assoziierungsabkommens mit Israel auf EU-Ebene.
- Ein Ende symbolischer Gesten der politischen Nähe
- Der Stopp von Handels- und Kooperationsbeziehungen mit Unternehmen, die von der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westbank profitieren.
Doch Konsequenzen? Fehlanzeige. Worte allein retten keine Leben.
Das tägliche Sterben
Wir sehen es tagtäglich: hungernde Kinder mit aufgedunsenen Bäuchen, die sterben, während die Welt diskutiert. Ausgebrannte Häuser, in deren Trümmern ganze Familien ausgelöscht wurden.
Ärzte, die entscheiden müssen, welches Kind ohne Betäubung operiert wird, weil Schmerzmittel fehlen. WHO-Lager, die angegriffen wurden. Menschen, die mit Flugblättern zur „Evakuierung“ gedrängt werden, nur um festzustellen, dass auch der nächste Zufluchtsort zur Zielscheibe wird. Das tägliche Sterben von Kindern ist zur Kulisse eines Kriegs geworden, der vorgibt, sich zu verteidigen, während er in Wahrheit zermürbt, entrechtet und vernichtet. Was hier geschieht, ist nicht Verteidigung. Es ist Strategie. Es ist Missachtung des Völkerrechts in einer brutalen Form.
Die moralische Bankrotterklärung
Und doch schweigen wir. Stillhalten. Routiniert weitermachen, als sei nichts geschehen. Weiter Waffen liefern. Weiter diplomatisch „abwägen“. Die deutsche Regierung vermeidet klare Worte und hält an einer vermeintlichen Balance fest, die längst jede Glaubwürdigkeit verloren hat. Wer in dieser
Situation von diplomatischer Balance spricht, während gezielte Bombardierungen, Hungerblockaden und Vertreibungen stattfinden, betreibt keine Vermittlung, sondern Vernebelung. Das ist keine Neutralität, das ist Preisgabe politischer Integrität. Wir haben verhandelt, während Kinder starben. Wir haben gezögert, während Krankenhäuser brannten. Wir haben versagt – als Gesellschaft, als Staat, als Gemeinschaft der Werte.
Sprachpolitik als Strategie
Wer jetzt noch von „Komplexität“ im Israel-Gaza-Konflikt spricht, betreibt Nebelwerferei. Wer noch immer nicht sieht, dass die gegenwärtige Politik der israelischen Regierung in einer gezielten Vertreibung kulminiert, der will nicht sehen. Die sogenannte „freiwillige Ausreise“ der Gazabewohner ist in Wahrheit eine erzwungene Flucht vor dem Tod. Wer von „Evakuierung“ spricht, während Bomben fallen und jede verbleibende Zuflucht zerstört wird, betreibt sprachliche Verschleierung.
Völkerrechtlich ist das Vorgehen durch nichts zu rechtfertigen: Artikel 49 der IV. Genfer Konvention verbietet ausdrücklich jede zwangsweise Umsiedlung geschützter Personen aus besetzten Gebieten – ohne Ausnahmen, ohne Hintertüren. Wer in diesem Kontext von „humanitärer Stadt“ spricht, kaschiert eine Politik der Kontrolle, Segregation und Verdrängung. Die geplante „Umsiedlung“ ist keine Schutzmaßnahme, sondern eine Zwangsumsiedlung – völkerrechtswidrig.
Begriffe wie „Auffanglager“ oder „humanitäre Stadt“ sollen beruhigen, wo nichts beruhigend ist. Sie transformieren die Realität systematischer Vertreibung in vermeintliche Fürsorge. Diese Sprachregelung ist kein Zufall. Sie ist Teil einer semantischen Strategie, eines kalkulierten Framings, das Gewalt legitimieren und moralische Empörung entschärfen soll. Was in Gaza geschieht, wird nicht nur militärisch, sondern sprachlich verwaltet. Die Begriffe sind geschönt, doch ihre Wirkung ist real: Sie nehmen dem Unrecht seine Dringlichkeit. Und sie bieten jenen Deckung, die sich der Verantwortung entziehen wollen.
Verantwortung beginnt hier
Und Deutschland? Deutschlands Verantwortung ergibt sich nicht nur aus der Geschichte. Sondern aus der Gegenwart. Aus jedem unterzeichneten völkerrechtlichen Vertrag. Aus der Charta der Vereinten Nationen. Aus der UN-Kinderrechtskonvention. Aus dem humanitären Völkerrecht. Aus unserem Anspruch, ein Land zu sein, das aus seiner Vergangenheit gelernt hat. Das „Nie wieder“ sagt. Aber „Nie wieder“ darf nicht exklusiv gemeint sein. Es gilt für alle. Für jedes Kind. Für jede Mutter. Für jeden Menschen.
Es ist Zeit für Klarheit. Für ein Ende der diplomatischen Nebelschwaden. Für einen entschiedenen Bruch mit einer Politik, die sich hinter vermeintlicher Staatsräson versteckt. Für eine menschenrechtliche Wende in der deutschen Außenpolitik. Die Bundesregierung muss diplomatisch Abstand nehmen von einer israelischen Regierung, die das Völkerrecht mit Füßen tritt. Sie muss politischen Druck ausüben. Und sie muss anerkennen, dass eine Politik, die Menschenrechte selektiv verteidigt, keine moralische Autorität besitzt.
Wir stehen an einem Scheideweg: Zwischen der völkerrechtlichen Verpflichtung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu benennen und ihnen entgegenzutreten, und dem politischen Kalkül, strategische Allianzen nicht zu gefährden. Dieser Moment verlangt Entscheidung – nicht Neutralität. Wer jetzt schweigt, stellt sich nicht zwischen den Fronten, sondern auf eine Seite. Und die Geschichte wird uns fragen: Was habt ihr gesehen? Was habt ihr gewusst? Was habt ihr getan?
Es ist nicht zu spät. Noch nicht. Aber es braucht mehr als Empathie. Es braucht Haltung. Es braucht Handeln. Es braucht die Bereitschaft, sich selbst zu konfrontieren. Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Und unsere Stimme – sie ist noch nicht ganz verstummt.
Gaza ist der Prüfstein
Zum Schluss richte ich den Blick dorthin, wo man ihn am liebsten abwenden möchte. Nicht auf Regierungserklärungen, nicht auf diplomatische Protokolle. Sondern dorthin, wo das Völkerrecht zerbricht und Menschlichkeit zur Frage von Entfernung wird. Nach Gaza. Zu den Müttern, die in Trümmern nach ihren Kindern graben. Zu den Kindern, die mit leerem Blick erwachen, weil sie mehr Verstörung als Sprache kennen. Zu Ärzten, die mit leerem Vorrat, aber ungebrochener Pflicht am Leben festhalten. Zu einer Gesellschaft, die nur noch aus Fluchtwegen, Staub und Schüssen besteht – Schüsse, die überall fallen und jeden treffen können.
Was dort geschieht, ist ein Versagen – aber nicht ihres. Es ist unseres. Wir haben nicht geantwortet, als sie uns angeschrien haben. Wir haben weggesehen, als sie uns die Beweise geliefert haben. Wir haben gezögert, diskutiert, diplomatisch taktiert, während sie gestorben sind.
Wir können nicht zurückspulen, aber wir können aufhören zu schweigen. Nicht aus Schuld, sondern aus Verantwortung. Nicht aus Sentimentalität, sondern aus Haltung.
Gaza ist keine ferne Katastrophe. Es ist das moralische Beben, das bis in unsere Fundamente reicht. Es zwingt uns zu einer Entscheidung: ob wir Mitgefühl zur Floskel degradieren oder zur politischen Konsequenz machen. Ob wir die universellen Menschenrechte wirklich meinen oder nur dann, wenn sie nicht weh tun.
Wer jetzt noch schweigt, entscheidet sich – gegen das Völkerrecht, gegen Mitmenschlichkeit, gegen sich selbst.
Gaza braucht nicht unser Mitleid. Gaza braucht unsere Stimme, unsere Haltung, unser Handeln. Nicht morgen. Jetzt. Meinung
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