Dr. Soraya Moket, Frauen, Feministin, Rassismus, Flüchtling
Dr. Soraya Moket © privat, Zeichnung MiGAZIN

Rente & Migration

Altersarmut ist kein Zufall

Die Rente entscheidet über Würde und Armut im Alter – und für viele Migranten fällt dieses System besonders hart aus. Prekäre Arbeit, Diskriminierung und Ausschlüsse wirken ein Leben lang.

Von Mittwoch, 17.12.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 13.12.2025, 13:21 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

In einer Zeit, in der gesellschaftliche Debatten immer stärker durch ökonomische Kennzahlen bestimmt werden, geraten zentrale Werte wie Solidarität, Respekt und Fairness zunehmend unter Druck. Diese Entwicklung ist gefährlich – nicht nur für marginalisierte Gruppen, sondern für unsere demokratische Grundordnung. Denn Demokratie und Menschenrechte lassen sich nicht nach Effizienzlogiken verwalten. Sie verlangen Haltung, Verantwortung und eine klare politische Positionierung.

Diese Haltung zeigt sich nicht nur im Engagement gegen Rassismus, Sexismus oder koloniale Kontinuitäten, sondern auch in jenen Feldern, die oft als technokratisch abgetan werden – etwa in der Rentendebatte. Sie ist eine der wichtigsten Gerechtigkeitsfragen unserer Zeit. Und sie macht deutlich, wie eng soziale Sicherheit und demokratische Stabilität miteinander verwoben sind.

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Der Generationenvertrag war einst das soziale Rückgrat dieses Landes: Erwerbstätige tragen die Älteren, damit sie im Alter in Würde leben können. Er beruhte auf gegenseitigem Vertrauen – und der Gewissheit, dass jede Generation Verantwortung füreinander übernimmt. Heute jedoch bröckelt dieses Vertrauen. Statt über faire Lastenverteilung zu sprechen, dominieren Diskussionen über Beitragssätze, Haushaltslücken und demografische Kurven. Der Mensch wird hinter Zahlen versteckt, als ginge es um ein reines Rechenexempel. Doch die Zahlen erzählen nur einen Teil der Wahrheit.

Die zentrale Frage lautet: Wer trägt eigentlich die Verantwortung für dieses System – und wer wird systematisch davon ausgenommen?

„Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten und altern, sind tief ungleich verteilt. Diskriminierung beeinflusst Erwerbsbiografien unmittelbar und damit auch die Rente.“

Ein zeitgemäßes Rentensystem, das Gerechtigkeit ernst nimmt, kann es sich nicht leisten, ganze Berufsgruppen dauerhaft aus der solidarischen Finanzierung herauszunehmen – darunter Politiker:innen, Beamt:innen, bestimmte Selbstständige oder freie Berufe. Wenn soziale Sicherheit ein kollektives Versprechen ist, muss auch die Finanzierung kollektiv sein. Eine zukunftsfähige Rentenversicherung kann nur funktionieren, wenn wirklich alle einzahlen. Ohne Privilegien, ohne Sondersysteme, ohne Schlupflöcher. Internationale Beispiele – von Österreich bis in die nordischen Staaten – zeigen längst, dass das möglich und erfolgreich ist.

Doch finanzielle Fairness allein reicht nicht. Denn die Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten und altern, sind tief ungleich verteilt. Diskriminierung – ob rassistisch, geschlechtsspezifisch, sozial oder transgenerational – beeinflusst Erwerbsbiografien unmittelbar und damit auch die spätere Rentenhöhe.

Besonders betroffen sind Menschen mit Migrationsbiografie, vor allem Frauen, die überproportional in prekären Beschäftigungsverhältnissen und im Niedriglohnsektor arbeiten. Für sie bedeutet das heutige Rentensystem ein hohes Risiko der Altersarmut. Viele verrichten körperlich belastende Tätigkeiten und werden das Renteneintrittsalter von 67 Jahren realistisch nicht gesund erreichen. Die Folgen sind vorhersehbar: Sie scheiden früher aus dem Beruf aus, sind im Alter auf Sozialhilfe angewiesen – und die gesellschaftlichen Kosten steigen.

„Die Rentenfrage ist deshalb kein rein finanzielles Thema. Sie ist ein Prüfstein dafür, wie wir als Gesellschaft mit Ungleichheit umgehen.“

Eine Politik, die solche Realitäten ausblendet, ist weder fair noch nachhaltig. Sie schwächt den Sozialstaat und verweigert Menschen ein Altern in Würde. Diese Ungleichheiten sind keine individuellen Tragödien, sondern Ausdruck institutioneller und struktureller Diskriminierung – oftmals auch rassistisch geprägt.

Die Rentenfrage ist deshalb kein rein finanzielles Thema. Sie ist ein Prüfstein dafür, wie wir als Gesellschaft mit Ungleichheit umgehen: ob wir sie fortschreiben oder ob wir sie endlich abbauen wollen. Dass Kleidung, Akzent, Herkunft oder vermeintliche Persönlichkeitsmerkmale häufig mehr über berufliche Chancen entscheiden als tatsächliche Kompetenz, zeigt, wie sehr wir noch im Mythos der Meritokratie gefangen sind. Eine faire Rentenpolitik bedeutet deshalb immer auch eine Politik gegen Diskriminierung.

Führung spielt dabei eine zentrale Rolle. Diversität ist keine moralische Kür, sondern eine politische Notwendigkeit. Ein menschenzentrierter Führungsstil stärkt Resilienz, teilt Macht, reflektiert Privilegien und bekämpft strukturelle Ungerechtigkeit. Und er anerkennt: Neutralität im Angesicht von Menschenrechtsverletzungen ist keine Option.

Die Bundesregierung hat zahlreiche internationale Abkommen unterzeichnet, die sie zu menschenrechtlichen und sozialen Standards verpflichten. Doch Verpflichtungen bleiben wertlos, wenn sie nicht konsequent umgesetzt werden. Gerade in Zeiten politischer Polarisierung braucht es eine Regierung – und eine Zivilgesellschaft –, die klar und unmissverständlich für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte einsteht. Das gilt im Kampf gegen Diskriminierung ebenso wie in der Rentenpolitik.

„Wer heute für eine faire Rentenversicherung kämpft, kämpft auch für junge Menschen, die in eine ungleiche Arbeitswelt starten.“

Wer heute für eine faire, solidarische Rentenversicherung kämpft, kämpft nicht nur für die Älteren. Er kämpft für junge Menschen, die in eine ungleiche Arbeitswelt starten. Für Familien, die zwischen Care-Arbeit und Erwerbsarbeit zerrieben werden. Für alle, die aufgrund struktureller Benachteiligung nicht die gleichen Chancen haben. Und letztlich für die Zukunft einer Demokratie, die auf sozialer Stabilität fußt.

Die Frage lautet heute nicht, ob wir Haltung zeigen sollten. Die Frage ist, ob wir es uns noch leisten können, es nicht zu tun. Meinung

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