
Logik der Macht
Nicht das Stadtbild ist das Problem – sondern der Blick darauf
Deutschland hat wieder ein Problem. Kein Haushaltsloch, kein Fachkräftemangel, kein Klima. Nein, das Stadtbild – in dem auch ich sichtbar bin, Herr Bundeskanzler.
Von Nasim Ebert-Nabavi Sonntag, 19.10.2025, 17:44 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 19.10.2025, 15:39 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Ein Satz, fast beiläufig gesprochen, doch aufgeladen mit der Geschichte eines Landes, das noch immer Mühe hat, Vielfalt als Normalität zu begreifen. Friedrich Merz wollte in Brandenburg die Erfolge seiner Asylpolitik erklären: sinkende Zahlen, strengere Verfahren, mehr Rückführungen. Doch am Ende blieb dieser Halbsatz – das Stadtbild als Problem.
Er sprach ruhig, sachlich, fast zufrieden. Und genau das macht den Moment so aufschlussreich. Denn in dieser Gelassenheit steckt ein ganzes Weltbild: die Vorstellung, dass Ordnung sichtbar sein müsse und Abweichung schon durch ihre Existenz irritiert. So wird Politik zum Blick, Recht zum Reflex, Gesellschaft zum Verdacht. Und das, was man sieht, beginnt zu bestimmen, was man glaubt.
Was er wirklich gesagt hat
Friedrich Merz sprach über Asylpolitik – über Rückführungen, Kontrolle, Zahlen. Doch in dem Moment, in dem er das Stadtbild zum Maßstab machte, verwandelte sich Politik in Perspektive. Aus Regierungshandeln wurde Deutung. Das Problem lag nicht mehr im System, sondern im Auge des Betrachters.
Damit wurde Migration von einer gesellschaftlichen Realität zu einer Frage der Ästhetik. Der Kanzler sprach über Geflüchtete, doch seine Worte reichten weit über sie hinaus.: Menschen, die seit Generationen Teil dieses Landes sind, hier geboren, aufgewachsen, arbeitend und steuerzahlend leben; deren Kinder hier groß werden; deren Geschichten längst mit diesem Land verwoben sind. Ihre Sprachen sind deutsch, ihre Leben Teil dieses Landes – und doch werden ihre Gesichter noch immer anders gelesen, als Abweichung von einem Bild, das sich selbst für die Norm hält. Ein Blick, der vorgibt, Realität zu beschreiben, verrät, wie eng der Begriff des „Wir“ noch immer gefasst ist.
In einem Satz verwischte der Kanzler die Grenze zwischen Asylpolitik und Alltagsrassismus. Was wie eine Feststellung klang, war in Wahrheit eine Zuschreibung – ein politisches Signal, das Mitbürgerinnen und Mitbürger zu Fremden erklärt.
Das ist nicht nur spaltend, es ist entlarvend. Ein Satz, der zeigt, wie Macht wirkt, indem sie Wahrnehmung formt. Denn hier beginnt die eigentliche Gefahr: Wenn Zugehörigkeit zur Frage des Anblicks wird, rückt das Grundgesetz in den Hintergrund. Die Gleichheit vor dem Recht weicht dem Urteil des Auges. So verschiebt sich die Grenze zwischen „wir“ und „die Anderen“ – leise, aber unaufhaltsam.
Das ist keine sprachliche Panne, sondern ein Narrativ: eine Sprache, die kontrolliert klingt und doch trennt, wo sie verbinden sollte.
Die Normalität der Distanz
Das Verstörende an diesem Satz ist nicht seine Härte, sondern seine Ruhe. Er fiel nicht im Affekt, sondern in Routine – glatt, sachlich, gesprochen im Ton des Bundeskanzlers.
Gerade das macht ihn gefährlich. Denn Distanz ist längst zur höflichen Form der Ausgrenzung geworden. Sie braucht keine Beleidigung, keine Lautstärke, keine offene Ablehnung. Sie spricht die Sprache der Macht – kühl, kontrolliert, kalkuliert. Sie tarnt Abwertung als Sachlichkeit, Gleichgültigkeit als Ordnung.
Sie sagt nicht: Du gehörst nicht dazu. Sie sagt: Man sieht es doch.
Das ist die stillste Form des Ausschlusses und zugleich die wirksamste. Weil sie sich als Beobachtung tarnt, nicht als Urteil. Weil sie rational wirkt und doch tief trifft. Weil sie vorgibt, Klarheit zu schaffen, und Unsicherheit sät.
Diese Sprache ist kein Zufall. Sie spiegelt ein Land, das glaubt, Diskriminierung überwunden zu haben und nicht merkt, dass sie längst wieder zur Routine geworden ist. Man hört kein Ressentiment und spürt es doch: im Ton, in der Wortwahl, im beharrlichen „Wir“, das sich selbst genügt.
Sprache muss nicht aggressiv sein, um zu verletzen. Es genügt, wenn sie trennt, wo sie verstehen sollte.
Die Logik der Macht
Sprache ist die präziseste Form von Macht. Wer sie beherrscht, grenzt aus, ohne Mauern zu errichten. Wenn ein Kanzler spricht, wird jedes Wort zur Setzung und zur Einladung, ihm zu folgen. So verschiebt sich Normalität, lange bevor ein Gesetz beschlossen ist.
Politische Sprache formt gesellschaftliche Wirklichkeit. Sie entscheidet, wer dazugehört und wer bloß Gegenstand der Debatte bleibt.
Wenn Macht beginnt, über „Probleme im Stadtbild“ zu sprechen, verlagert sie den Maßstab:
Wahrnehmung ersetzt Analyse, Sichtbarkeit wird zur Kategorie der Politik.
In Zeiten wachsender Unsicherheit verspricht diese Sprache Kontrolle und entzieht sich zugleich der Verantwortung. Nicht das System muss sich ändern, sondern der Anblick. So entlastet sich Politik von der Pflicht, Ursachen zu beheben, und konzentriert sich auf Symptome, die sie selbst erzeugt.
Politik, die das Sichtbare ordnen will, verliert den Blick für das Wirkliche. Ein Land scheitert nicht an Vielfalt, sondern an Ungerechtigkeit. Wer Homogenität mit Stabilität verwechselt, verliert beides – Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Frieden.
Wem dieses Land gehört
Ich schreibe das nicht als Beobachterin, sondern als Teil dieses Stadtbilds – oder, wie der Kanzler sagen würde, als das „Problem“, von dem hier die Rede ist. Ich bin in diesem Land aufgewachsen, habe hier studiert, arbeite, zahle Steuern und bringe meinen Kindern bei, dass Vielfalt kein Gegensatz, sondern die Grundlage unserer Demokratie ist. Und doch gibt es Momente, in denen ein Satz wie dieser mich trifft wie ein Schatten, der bleibt. Denn gemeint bin ich. Und all die anderen, die aussehen wie ich und nicht weiß gelesen werden. Menschen, die hier leben, lieben, arbeiten, alt werden und jene, die einst Schutz suchten und geblieben sind.
Unsere Geschichten sind längst Teil dieses Landes, unsere Stimmen klingen in seiner Sprache. Dieses Land gehört nicht denen, die bestimmen wollen, wer dazugehört. Es gehört denen, die es tragen: den Menschen, die frühmorgens in Zügen sitzen, in Kliniken Schichten übernehmen, Kinder erziehen, Recht sprechen, forschen, lehren, pflegen, lachen – in all ihren Sprachen, mit all ihren Geschichten.
Sie sind nicht das Problem im Stadtbild. Sie sind sein Fundament.
Ein letzter Blick
Dieses Fundament ist kein Bauwerk aus Stein, sondern eines aus Vertrauen. Es ruht auf der stillen Übereinkunft, dass jeder Mensch in diesem Land den gleichen Wert hat – unabhängig davon, wie er aussieht oder heißt.
Wer das „Stadtbild“ zum Problem erklärt, stellt dieses Versprechen infrage. Ein Kanzler hat die Pflicht, zu verbinden, nicht zu spalten. Seine Worte sind kein Kommentar, sie sind Bekenntnis.
Sprache ist Teil staatlicher Verantwortung: Sie kann Anerkennung stiften oder Vertrauen zerstören. Dieses Land trägt sich nicht durch Abstammung, sondern durch Verantwortung füreinander. Die Menschen, die es täglich am Leben halten, sind kein Problem im Stadtbild. Sie sind die Substanz, aus der dieses Land besteht.
Das Problem liegt nicht in dem, was sichtbar ist, sondern in dem, was Macht zu übersehen bereit ist. (mig) Meinung
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