
Flirt und Traditionen
Die stille Macht der Frauen in Bosnien
Bosniens Geschichte erzählt von Frauen, die ihre Liebe selbst wählten, von Liedern voller Sehnsucht und von Bräuchen, in denen weibliche Stärke selbstverständlich war. Ein Blick auf ein Land zwischen Tradition und Selbstbestimmung.
Von Erdin Kadunić Donnerstag, 16.10.2025, 17:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.10.2025, 16:26 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Wenn man heute von Bosnien spricht, verbinden viele das Land mit seiner muslimischen Tradition. Doch das Bild, dass die Frau dort eine untergeordnete Rolle spielte oder Zwangsehen zum Alltag gehörten, ist ein Märchen. In Wahrheit war die bosnische Frau seit Jahrhunderten die graue Eminenz der Familie – leise, aber bestimmend, Hüterin von Ehre, Haus und Zukunft der Kinder. Während in vielen Teilen der Welt arrangierte oder gar erzwungene Ehen die Norm waren, war dies in Bosnien anders: Eltern konnten zwar Empfehlungen aussprechen, doch am Ende entschied die Frau, wen sie an ihr Fenster ließ und wessen Blick sie erwiderte. Die Macht lag nicht in den Händen der Väter oder Brüder, sondern in der stillen Entscheidung der Tochter.
Das Werben – die hohe Kunst des Flirtens
Das sogenannte Werben (ašikovanje) war einer der schönsten Bräuche im alten Bosnien. Es spielte sich auf geselligen Abenden (sijela) oder Volksfesten im Freien (teferiči) ab. Dort trafen sich junge Männer und Frauen, sprachen miteinander, sangen, lachten – und flirteten.
Der einzige erlaubte körperliche Kontakt war das Händefassen im Reigentanz (kolo). Für Außenstehende wirkte dieser Tanz vielleicht streng und distanziert, doch für die Beteiligten war er ein stilles Versprechen: ein Händedruck, der für Herzklopfen sorgte, ein Blick, der mehr sagte als Worte.
War das Interesse geweckt, verlagerte sich das Werben in die Häuser. Dort, im Halbdunkel einer überfüllten Stube, saßen junge Paare in der Ecke, redeten stundenlang und flüsterten bis zum Morgengrauen. Diese Form der Annäherung war gleichzeitig zurückhaltend und tief romantisch. Nicht selten war es der Beginn einer Ehe. In einigen Regionen des Landes war das Fensterln das höchste der Gefühle – ein Einlass in die Räumlichkeiten des Hauses war nicht möglich.
Liebeslieder – ein klingendes Archiv der Gefühle
Die bosnischen Liebeslieder (oder Sevvdalinka genannt) sind nicht nur Musik, sondern kulturelles Gedächtnis. Sie erzählen von Sehnsucht, Zurückhaltung und von der Entscheidungskraft der Frau. Männer besangen die Unerreichbarkeit der Geliebten, ihre Schönheit und ihr Lächeln – doch am Ende blieb die Frage: Wird sie antworten?
In diesen Liedern wird spürbar, dass Religion und weibliche Selbstbestimmung kein Widerspruch war. Die Frau galt als Hüterin von Würde und Liebe. Dass sie den Ton angab, war selbstverständlich – auch wenn es nach außen oft anders dargestellt wurde. Ein bekanntes Bild dieser Zeit ist das Fensterln. Der junge Mann kam ans Fenster – aber nur, wenn die Frau es erlaubte. Sie entschied, ob sie sprach, schwieg oder das Fenster schloss. Es war ihr Reich, ihre Bühne, ihre Macht.
Auch die Tradition des „Brautstehlens“ (otmica, otimačina) ist missverständlich, wenn man sie nur oberflächlich betrachtet. Denn häufig war sie mit der Zustimmung der Frau verbunden. Sie signalisierte ihrem Auserwählten, dass sie bereit war zu gehen. Der junge Mann entführte sie symbolisch in sein Elternhaus. Dort war es Aufgabe beider Familien, die Situation zu befrieden (Versöhnung – mirenje). Begleitet wurde die Versöhnung durch Geschenke der Eltern des Bräutigams, um die Eltern der Braut milde zu stimmen. So entstand ein neues soziales Band: Die Eltern des Brautpaares wurden „Freunde“ (prijatelji, prike) – obwohl sie zuvor als „Gegner“ verhandelt hatten. Aus Konflikt wurde Freundschaft, aus Fremdheit Verwandtschaft.
Frauen als stille Leiterinnen
All diese Bräuche zeigen ein Muster: Nach außen hin galt der Mann als Oberhaupt, doch im Inneren lenkte die Frau. Sie bestimmte über Kinder, Haus, Nachbarschaften und Familiennetzwerke. Ihre Stimme war nicht laut, doch sie entschied.
So entstand das, was viele heute nicht vermuten würden: ein patriarchal erscheinendes System, das in Wirklichkeit von der unsichtbaren weiblichen Autorität geprägt war. Treffen fanden oft im Rahmen gemeinsamer Arbeiten statt – etwa beim Maisabblättern. Dort lachten, sangen und flirteten junge Leute, ohne dass die Grenzen der Sitte überschritten wurden. Wenn ein junger Mann einem Mädchen einen Maiskolben ins Schoss legte und sie ihn annahm, war das ein Zeichen stiller Zuneigung.
Bosnien zeigt eindrucksvoll, dass Tradition, Religion und weibliche Stärke nebeneinander existieren können. Die Geschichten vom Werben, die Melodien der Liebeslieder, die Symbolik des Fensters und selbst die Bräuche rund um das „Brautstehlen“ belegen: In diesem Teil Europas war die Frau nie nur Beiwerk, sondern Herz, Stimme und stille Macht der Familie. (mig) Meinung
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