
Schwer zu ertragen
Film zeigt Perspektive der Opfer von Hanau
Neun junge Menschen erschoss ein rechtsextremistischer Täter am 19. Februar 2020 im hessischen Hanau. Marcin Wierzchowski hat über mehrere Jahre Freunde und Angehörige der Opfer begleitet und diese Zeit in „Das Deutsche Volk“ einfühlsam verarbeitet.
Von Jens Balkenborg Dienstag, 02.09.2025, 14:03 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 02.09.2025, 14:04 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Piter Minnemann drischt auf einen Boxsack ein. Die harten Tritte knallen auf den Sack, dann vollzieht er eine Choreographie aus Schlägen und Abwehrbewegungen mit seinem Sparringspartner. Kurz darauf sitzt der hochgewachsene, muskulöse Mann auf einer Bank und sagt Sätze, die selbst wie Schläge von der Leinwand schmettern. „Die ersten Personen, die ich beerdigen musste, waren drei meiner Freunde.“ Er sagt, er habe auf den Trauerfeiern geweint wie noch nie in seinem Leben.
Minnemann gehört zu den Überlebenden des Attentats von Hanau, er war am Abend des 19. Februar 2020 in der Arena Bar, einem der beiden Tatorte. An dem Abend erschoss der 43 Jahre alte Tobias R. an zwei Tatorten in Hanau innerhalb von zwölf Minuten neun Menschen mit Migrationsgeschichte und anschließend in seiner Wohnung in Kesselstadt seine Mutter und sich selbst: ein Akt beispielloser rechtsextremistischer Gewalt. Der Täter hatte trotz psychischer Störungen, verschwörungsideologischer und rechtsextremistischer Auffälligkeiten einen Waffenschein.
In seinem Dokumentarfilm „Das Deutsche Volk“, der in diesem Jahr in der Sektion „Special“ bei der Berlinale Premiere feierte, blickt Marcin Wierzchowski aus der Perspektive der Freunde und Hinterbliebenen der Opfer auf die Ereignisse. Über vier Jahre hinweg hat der Regisseur sie mit und ohne Kamera begleitet. Herausgekommen ist ein dichter, 130 Minuten langer Film über Trauer und Trauma und über den Kampf für Gerechtigkeit.
Schwer zu ertragen
„Das Deutsche Volk“ liefert nach Julian Vogels „Einzeltäter“-Trilogie, die sich auf die Hinterbliebenen der rechtsterroristischen Attentate in München 2016, Halle 2019 und Hanau 2020 fokussierte, eine weitere filmische Aufarbeitung. Bereits für seine 47 Minuten lange Dokumentation „Hanau – Eine Nacht und ihre Folgen“, eine Bestandsaufnahme des Jahres nach dem Anschlag, war Wierzchowski 2022 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden.
Schwer zu ertragen ist, wie sehr die Familien um die Aufarbeitung kämpfen müssen. Einige der Hinterbliebenen kritisieren im Film, dass in der Tatnacht der Notruf, den etwa Vili Viorel P un mehrfach angerufen hatte, nicht erreichbar war und der Notausgang der Arena Bar, ein möglicher Fluchtweg, verschlossen. „Wir brauchen keinen Dank. Wir brauchen ein Ende der rassistischen Gewalt“, sagt die Mutter von Sedat Gürbüz einmal in die Kamera.
Einseitige Perspektivierung
„Das Deutsche Volk“ zeigt, wie unterschiedlich die sehr unterschiedlichen Menschen mit ihrer Trauer umgehen. Niculescu Păun folgen wir in sein rumänisches Heimatdorf, wo er den Bürgermeister dazu überredet, eine Straße nach seinem Sohn zu benennen. Armin Kurtovic, Vater des getöteten Hamza, ruft den „Hamza-Kurtovic -Award“ gegen Rassismus ins Leben und zeichnet den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff dafür aus, dass er vor Jahren am Tag der Deutschen Einheit sagte, der Islam gehöre zu Deutschland.
Dass ausgeblendet wird, dass nicht alle Familien gleich zu der Situation stehen, kann man dem Film ein Stück weit vorwerfen. In der einseitigen Perspektivierung auf die Opfer spiegelt sich eine gegenwärtig öfter anzutreffende dokumentarfilmische Haltung, auch „No Other Land“ oder „Die Möllner Briefe“ solidarisieren sich vorbehaltlos und suchen keine Objektivität.
Bewusste Sichtbarmachung
„Das Deutsche Volk“ wählt diese Perspektive, weil der Film ganz bewusst eine Sichtbarmachung zelebriert, quasi als kinematografische Verlängerung des Hashtags „SayTheirNames“, der um die Welt gegangen ist. Die Namen der Opfer fallen immer wieder: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
„Das Deutsche Volk“ macht es sich auch zur Aufgabe, strukturellen Rassismus offenzulegen – das Sondereinsatzkommando, das in der Nacht das Haus des Täters stürmte, wurde später aufgelöst, weil die Hälfte der Beamten in rechtsradikalen Chatgruppen unterwegs waren. So legt der Film den Finger in die Wunden vieler gegenwärtiger, ins Autoritäre driftender Gesellschaften und stemmt sich gegen eine Normalisierung rechter Narrative. (dpa/mig) Aktuell Rezension
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