
Ein Bild für die Ewigkeit
Medienforscher: Alan-Kurdi-Foto dokumentierte „Zivilisationsversagen“
Ein kleiner Körper im Sand, ein Bild für die Ewigkeit: Vor zehn Jahren erschütterte das Foto von Alan Kurdi die Welt. Es verdichtete die ganze Tragödie der Flucht ins Mittelmeer auf ein einziges Schicksal – und machte laut Medienprofessor Godulla das „absolute Zivilisationsversagen“ sichtbar.
Von Stefan Fuhr Montag, 01.09.2025, 11:49 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 01.09.2025, 11:49 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
Das vor zehn Jahren entstandene Foto des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi hat nach Expertenmeinung eine große Wirkungsmacht entfaltet. „Es hat die Situation der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa gelangen wollten, auf ein Schicksal hin verdichtet und für breite Bevölkerungsteile greifbar gemacht“, sagte der Leipziger Medienprofessor Alexander Godulla dem Evangelischen Pressedienst. Die extremen Gefahren für Leib und Leben auf der Flucht seien den Europäern deutlich vor Augen geführt worden.
Das Foto des 2015 an einen türkischen Strand gespülten Jungen habe in der Folge die Debatte um die Flüchtlingspolitik auf vielen Ebenen geprägt, führte Godulla aus, der unter anderem zur Rezeption von Pressefotos forscht. „Es hat bei den Menschen in Europa unter anderem die Bereitschaft verstärkt, zu helfen.“ Ein Kind aus einem Kriegsgebiet, das auf der Flucht ins vermeintlich sichere Europa ertrinkt, dokumentiere ein „absolutes Zivilisationsversagen“.
Der Schock
Godulla erläuterte, dass das Foto des toten Zweijährigen nicht allein über das unmittelbar Gezeigte gewirkt habe. Der Effekt des Schreckens sei vor allem darauf zurückzuführen, dass der Junge in einer Position liege, in der er auch schlafen könnte. „Erst aus dem Kontext wissen wir: Das Kind schläft nicht, es ist tatsächlich tot.“ Diese Erkenntnis löse den Schock aus. Das Kind habe dabei selbst keinen leidenden Ausdruck, sondern das Leid entstehe beim Publikum.
Die Kenntnis des Zusammenhangs sei bei dem Foto von Alan Kurdi entscheidend, erklärte der Wissenschaftler von der Universität Leipzig: „Dieses Bild wird erst durch die Bildunterschrift vollständig verständlich.“ Das unterscheide es auch von ikonografischen Fotos wie das des vietnamesischen Mädchens, das 1972 bei einem Napalm-Angriff schwere Verbrennungen erlitt.
Presseethische Debatte
Godulla erinnerte daran, dass das Foto von Alan Kurdi auch eine presseethische Debatte auslöste. Es habe sich die Frage gestellt, ob man ein solches totes Kind überhaupt zeigen dürfe. „Das war erstaunlich, denn in der Geschichte der Pressefotografie gab es schon immer Bilder leidender und toter Kinder, etwa in Berichterstattung über Hunger in Afrika.“ Das Foto des toten Kindes in der Türkei habe das Leid aber näher an Europa gerückt. „Das war neu – und das wollten manche nicht so stehen lassen.“
In der Folge werde das Zeigen toter Kinder in der Pressefotografie heute stärker tabuisiert als früher, fügte Godulla hinzu. Die langfristige politische Nachwirkung der Aufnahme sei dagegen beschränkt, insbesondere im digitalen Zeitalter, in dem ein Strom immer neuer Bilder nachfolge. „Zu behaupten, dass dieses Bild die politische Debatte noch heute, nach zehn Jahren, entscheidend prägt, wäre eine Überschätzung des Fotos – ehrlich gesagt wäre es eine Überschätzung jedes Bildes.“ (ep/mig) Leitartikel Panorama
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