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MiGAZIN Kolumnist Sven Bensmann © privat, Zeichnung MiG

Nebenan

Am Abgrund zur Ochlokratie

Um Deutschland steht es nicht gut, wenn eine faktenfremde Hetzkampagne die Wahl einer höchsten Richterin verhindern kann. Der Führer ist auch nur noch eine Frage der Zeit.

Von Montag, 11.08.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 11.08.2025, 10:01 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Ochlokratie, um diese nicht alltägliche Formulierung zunächst einmal hinreichend zu erklären, bezeichnet in der klassischen griechischen Staatstheorie eine „Pöbelherrschaft“ im Sinne einer Tyrannis der Mehrheit über die Minderheit, als Perversion einer Demokratie, die ihrerseits auf den Interessenausgleich aller Bürger und den Schutz der Minderheiten abstellt. In der Ochlokratie sieht sich die Mehrheit dazu ermächtigt, der Minderheit Rechte, wie zum Beispiel das auf Asyl – keine Ahnung, wie ich gerade darauf komme – schlicht und einfach deswegen vorzuenthalten, weil sie die Mehrheit ist. Die Minderheit wird in Folge entrechtet mittels eines (angeblichen) Mandats der Mehrheit.

Das macht Ochlokratie zur notwendigen, jedoch nicht zur hinreichenden Bedingung für Faschismus, wie wir ihn kennen – und ist in gewisser Weise dessen Vorstufe.

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Ochlokratie in Aktion war zu erleben, als eine Koalition aus rechtsextremen, ultrakonservativen und rechtspopulistischen Agitatoren rund um AfD, christlichen Fundamentalisten, der FAZ und der Rechtspostille Nuis (lies: noise), sowie deren Vorfeld in der Union gemeinsam eine Kampagne gegen die Richterin Brosius-Gersdorf strickten, um sie als menschenverachtende Abtreibungsenthusiastin und ultralinke Spinnerin zu brandmarken, die zu wählen selbst üblicherweise des professionellen Spinnertums eher unverdächtige Unionspolitiker nicht mehr rechtfertigen konnten. Denen graute nämlich, so wird kolportiert, vor ihren, offenbar in weiten Teilen für solche Skinner gehaltenen, Wählern.

„Große Teile der Unionsfraktion scheinen Mehrheiten jenseits der Brandmauer zu suchen.“

Auf diese Weise gelang es, eine parlamentarische Mehrheit jenseits der demokratischen Mitte und der realen Mehrheiten in der Gesellschaft zu kreieren, die der Bundesregierung, dem Bundesgerichtshof und nicht zuletzt der Union massiven Schaden zugefügt hat. Denn demokratische Mehrheiten mit der Union sind ab sofort nicht mehr selbstverständlich. Vielmehr scheinen große Teile der Unionsfraktion Mehrheiten jenseits der Brandmauer zu suchen. Ihr Kanzler, der angetreten ist, um die AfD zu halbieren, steht damit plötzlich vor dem Problem, dass er stattdessen den Anteil der demokratiefähigen, womöglich gar der demokratiewilligen, Personen in seiner eigenen Fraktion halbiert hat. Konkret stellt sich damit auch die Frage, ob das kürzliche Einlenken Deutschlands in der Palästinapolitik auf einen Kurs, der der Politik der Verbündeten näher ist, Bestand haben wird, weil auch hier vor allem die Unionsfraktion zu meutern scheint.

Mit dem Rückzug Brosius-Gersdorfs haben die Ochlokraten einen, das darf nicht untertrieben werden, nicht nur symbolischen Sieg über die Demokratie errungen, und sie werden sich ermächtigt fühlen, ihre Macht weiter auszuspielen. Merz und Spahn glänzen derweil durch ihre Unfähigkeit, dem entgegenzuwirken – so man denn unterstellt, dass sie es überhaupt versuchen wollen und kein doppeltes Spiel spielen.

Bedeutet das nun, dass Deutschland sich auf direktem Wege und unaufhaltsam in den Faschismus bewegt? Nun, wie ich bereits geschrieben habe: Ochlokratie ist notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedingung für Faschismus. Der Faschismus benötigt die Ochlokratie, aus der sich dann ein Führer als Vertreter jenes Pöbelwillens erheben kann. Aber nicht aus jeder ochlokratischen Episode einer eigentlich stabilen Demokratie ergibt sich ein Abrutschen in den Faschismus. Nicht einmal die USA befinden sich unwiderruflich auf diesem Pfad.

„Nazistisches Denken hat die Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg scheinbar unbeschadet überstanden.“

Unglücklicherweise hat sich für Deutschland bisher aber gezeigt, dass der Aufstieg der AfD unaufhaltbar scheint, dass nazistisches Denken die Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg scheinbar unbeschadet überstanden hat; dass es nur darauf wartete, endlich wieder gesellschaftsfähig zu werden: Die AfD nicht als Akteur einer Renazifizierung, sondern lediglich als Instrument einer Enthemmung des furor teutonicus, dem sich das politische Spektrum bis weit in die Grünen hinein ergibt, wenn dort nur mehr Stimmen vermutet werden, als auf der Seite von Menschenwürde und Menschenrecht.

Folgt man dieser Lesart, landet man zwangsweise bei dieser einen Schlussfolgerung: Deutschland hat nur deshalb noch keinen neuen Führer, weil es keinen neuen Führer hat. Sprich: weil all diejenigen, die infrage kommen, die Weidels, Söder, Spahns, Merz‘, Höckes solche Nulpen sind, dass selbst die, die sich einen Führer herbeisehnen, nicht in der Lage sind, in diesen Figuren einen zu sehen.

„Ein charismatischer Führer ist also noch in weiter Ferne. Und doch ist dies keine Entwarnung.“

Das ist einerseits beruhigend, weil man aus einem Merz auch mit jahrelangem Coaching keinen charismatischen Führer mehr macht und auch ein Markus Söder wird auf seine letzten Jahre sicher keine auch nur halbwegs als konsistent glaubwürdig wahrgenommene Linie mehr entwickeln. Weidels mit den Fähigkeiten einer Gastrolle bei Rote Rosen geschauspielerter Furor wird außerhalb ihrer Partei wohl auch in Zukunft kaum mehr als Mitleid und Fremdscham hervorrufen und während Spahn politisch ohnehin erledigt ist, hat Landof Ladig bisher noch immer, wenn es drauf ankam, den Schwanz eingezogen.

Ein charismatischer Führer ist also noch in weiter Ferne. Und doch ist dies keine Entwarnung, denn irgendwann wird eine solche Figur auftauchen. „We‘re living in borrowed time“, wie der Engländer sagt.

Entweder, wir erkämpfen uns die Demokratie zurück, oder es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sie ganz verloren haben werden. Es ist durchaus ernst. (mig) Meinung

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