Nicole Quint, Journalistin, Berlin, Quint und Quer, MiGAZIN
Nicole Quint © privat, Zeichnung: MiG

Gaza

Im Hospiz der Empathie

Was hättest du damals getan? Mit dieser Frage sind Generationen von Deutschen aufgewachsen, nicht ahnend, dass ihre rhetorischen Antworten zu lauter kleinen Giftpfeilen mit der Aufschrift „Return to sender“ werden könnten.

Von Mittwoch, 06.08.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 06.08.2025, 10:03 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Vergangenheitsbewältigung ist unser nationales Hobby. Es ist eine wunderbare Freizeitbeschäftigung. Eine, der man, anders als dem Imkern oder Kitesurfen, auch bei vollem Terminkalender nachgehen kann. Vergangenheitsbewältigung, jedenfalls in der deutschen Variante, ist wie Singen, Bügeln oder Hörbücher hören – lässt sich alles prima nebenher erledigen. Für das regelmäßige Polieren von Stolpersteinen, für Festtagsreden und Einweihungen von Mahnmalen und Gedenkstätten haben wir ja die Angestellten unseres „Gedächtnistheaters“, wie der Soziologe Y. Michael Bodemann die ritualisierte Erinnerungskultur nannte, die nur dazu dient, sich als geläutert und gut zu empfinden. Der Tod und die Vergangenheitsbewältigung – zwei Meister aus Deutschland, und die Welt hat uns auch sehr für unser „Nie wieder!“ gelobt. Und jetzt? Nach über 60.000 Toten in Gaza vermiesen uns ungebetene Einsichten all unsere schönen Scheingewissheiten.

Unangenehm, dass erst die Wahlerfolge der AfD offenbarten, dass Deutschland nicht bloß Spuren von Rechtsextremismus enthalten kann, jetzt nötigen uns Staatsräson und Anti-Antisemitismus auf der einen Seite, Menschenrechte und Moral auf der anderen, zu einem Spagat, bei dem wir uns weit mehr als nur eine Glaubwürdigkeitszerrung zuziehen werden.

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Und unsere Reaktion auf diese missliche Lage? Leugnen, Verharmlosen, Rechtfertigen und Wegschauen, mit freundlicher Unterstützung von Leitartiklern und Nachrichtensprechern, die uns helfen, Zweifel, Schuld und Trauer in Schach zu halten. Gemeinsam haben wir uns davon überzeugt, dass jeder Mensch in Gaza Hamas ist, jedes Krankenhaus, jede Schule und jede Wohnung eine Terrorzelle, das ganz Gaza von einem Tunnelsystem unterhöhlt ist und das alles, was vor dem 7. Oktober 2023 war, irrelevant, der Terror an diesem Tag aber Rechtfertigung für alles ist, was seitdem geschieht. Ein vollbesetztes Flugzeug stürzt ab, ein exzentrischer Heavy-Metal-Sänger stirbt und eine beliebte Sportlerin verunglückt tödlich, und wir trauern kollektiv, derweil bleibt Sannd Abu al-Shaer, der noch keine 3 Monate auf der Welt war, als er bei einem Luftangriff zusammen mit seinem 5-jährigen Bruder Tariq und seinem 8-jährigen Bruder Abdul ums Leben kam, im toten Winkel der Aufmerksamkeit liegen.

„Unser Niveau der moralischen Fassungslosigkeit sinkt scheinbar im gleichen Tempo wie die Zahl der Getöteten täglich steigt.“

18.500 ermordete Kinder in Gaza, doch unser Niveau der moralischen Fassungslosigkeit sinkt scheinbar im gleichen Tempo wie die Zahl der Getöteten täglich steigt. Wie kann das sein?

Die Wahrheit über die Gräuel in Gaza droht alles zu zerstören, woran wir geglaubt haben – wer wir sind und wer wir sein wollten, und warum sollten wir das über uns wissen und mit der nationalen Selbsttäuschung aufhören wollen? Wer ist mutig genug, darüber überhaupt nachzudenken? Und warum erst jetzt? Empathielosigkeit hat schließlich schon eine sehr lange Tradition in Deutschland.

In den letzten vier Jahrzehnten sind Millionen Menschen in Stellvertreter-, Bürger- und Eroberungskriegen getötet, verletzt, ausgehungert, vertrieben und jeglicher Zukunftsperspektiven beraubt worden. Alles mit finanzieller, technologischer oder politischer Unterstützung durch den Meister der Vergangenheitsbewältigung, der auch dabei zuschaute, wie Jahrzehnte der israelischen Besatzung von Gaza, wie systemische Ungleichheit und Apartheidpolitik zum Normalzustand wurden und letztlich zur Zerstörung der Lebensgrundlagen und zu Massentötungen führte. Wir konnten in Echtzeit bezeugen, wie sich Israel in eine Gesellschaft verwandelt, die fähig ist, Völkermord zu begehen. Ohne es zu bemerken sind wir dabei zu jenen ganz normalen Menschen geworden, die ihr Leben weiterleben, während ES geschieht.

„Was hättest du getan?“

Sobald man das akzeptiert hat, schlägt die Frage, die Generationen von Deutschen sich immer wieder gestellt haben, mit voller Wucht ein: Was hättest du getan? Nur das die Antwort darauf nicht mehr rein rhetorisch sein kann. Was ich damals getan hätte, muss ich auch heute tun.

Wähle ich den Weg der bürokratisierten Ablasszahlung in Form der Spende oder stocke ich lieber den eigenen Floskelvorrat mit all den Phrasen auf, die deutsche Politiker, Kirchenvertreter und Redakteure als Antwort auf meine Protestschreiben formulieren? Kaufe ich mir eine Kufiya, um mich bei einer Berliner Demo von der Freundlichkeit deutscher Polizeibeamte überzeugen zu lassen? Leiste ich mir auf Social-Media-Plattformen Profilierungs- und Propagandaschlachten, käue wieder, was bei Lanz, Maischberger & Co. allabendlich auf die mediale Warmhalteplatte gestellt wurde und übernehme den Jargon der Talkshowgäste, bis ich selbst klinge wie all die Generäle, Profi-Zyniker, als Journalisten getarnte Showmaster oder wie Menschenrechtsanwälte und mich dann meines vermeintlichen Expertentums brüsten kann? Ich könnte mich auch endlich der BDS-Bewegung anschließen und darüber staunen, wie viele Produkte aus israelisch besetzten Gebieten stammen und bei welchen Firmen ich nicht mehr arbeiten, keine Versicherungen mehr abschließen oder Konten eröffnen dürfte. Einfach weinen wäre auch eine Option.

Eine Sache zu durchschauen, heißt nicht, imstande zu sein, sie zu verändern. Wie konnten normale Menschen in Deutschland ihr Leben weiterführen, während in Auschwitz die Züge an die Rampen rollten, während Israel in Gaza Schulen, Krankenhäuser und Zeltlager für Vertriebene bombardierte? Wie konnten sie das einfach geschehen lassen? Diese Fragestellung war schon immer falsch. Statt „Was hättest du damals getan?“ muss sie lauten „Was hättest du denn tatsächlich tun können?“; „Was kann ich heute eigentlich tun?“ statt „Was tue ich?“.

„Als ehrliche Antwort darauf macht sich das Gefühl einer lähmenden Nutzlosigkeit breit.“

Als ehrliche Antwort darauf macht sich das Gefühl einer lähmenden Nutzlosigkeit breit, und das ist der wesentliche Grund für die Verhärtung unserer Seelen. Nicht die Halbwertzeit des Grauens, mit denen skrupelloser Politiker kalkulieren, nicht die mediale Manipulation, nicht antimuslimischer Rassismus, sondern diese überwältigende Ohnmacht.

Wer solch einen Kontrollverlust erlebt, fühlt sich minderwertig und gedemütigt und entwickelt verschiedene Strategien der Gegenwehr, um sich wieder in eine Position der Überlegenheit zu bringen und sein Selbstwertempfinden zu stärken. Prima, dass wir schon ein Hobby haben, das uns genau dabei helfen wird. Die Welt nach Gaza und das nächste große Gedächtnistheater können kommen. (mig) Meinung

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