
Niels Espenhorst im Gespräch
Paritätischer: Brauchen keine neuen Sprachtests für Kita-Kinder
Bundesbildungsministerin Prien (CDU) befürwortet bundesweite Sprachtests für Vierjährige. Kinder, die Lücken in der sprachlichen Entwicklung haben, sollen eine verbindliche Förderung bekommen. Niels Espenhorst vom Paritätischen Gesamtverband hält im Gespräch dagegen.
Von Dirk Baas Montag, 14.07.2025, 13:33 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 14.07.2025, 15:29 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Herr Espenhorst, Bundesbildungsfamilienministerin Prien ist für bundesweite Sprachtests für Vierjährige, um Lücken bis zur Einschulung zu schließen. Was halten Sie von diesem Ansatz?
Niels Espenhorst: Diese Diskussion um verpflichtende Sprachtests verwundert mich sehr. Es ist eine von großer Unkenntnis und Ignoranz geprägte Auseinandersetzung. Wenn man sagt, es gibt einen Bedarf an der Erfassung der Sprachentwicklung von Kindern, dann ignoriert man damit all die Systeme, die es dazu gegenwärtig schon gibt. Viele der bestehenden Verfahren zur Ermittlung der sprachlichen Entwicklung sind gut und wichtig. Die Betonung liegt auf der Entwicklung. Die aktuell diskutierten Screeningverfahren zum einmaligen Erheben eines Sprachstandes sind Verfahren zur Massenanwendung. Sie haben nur eine begrenzte Aussagekraft und sind sehr simpel.
Sie sehen diese Screenings kritisch. Warum?
Man muss die Limitationen dieser Verfahren kennen und berücksichtigen. Screenings haben nur den Fokus, eine negative Auffälligkeit des Kindes zu finden. Es geht in den Tests nicht darum, besondere Kompetenzen festzustellen. Es geht nicht darum, verschiedene Merkmale oder Fähigkeiten herauszuarbeiten und es werden auch keine Entwicklungsverläufe abgebildet. Und noch ein Kritikpunkt: Es gibt bundesweit kein Screeningverfahren, das die Mehrsprachigkeit von Kindern berücksichtigt.
Nach Schätzungen müssen mindestens 30.000 Kinder in Deutschland die erste Klasse wiederholen. Da liegt doch echter Handlungsbedarf vor. Was ist also falsch am Grundsatz „Wer in die Schule kommt, muss Deutsch können“?
Damit führt man das Prinzip Sitzenbleiben in der Kita ein.
In einer Kita gibt es doch kein Sitzenbleiben.
Doch, das wäre de facto so, wenn man die vorschulische Sprachentwicklung in die Kitas verlegt und auch dort bestimmte Hürden übersprungen werden müssen. Sitzenbleiben in Schulen ist schon ein Irrweg. Und dann soll man diesen Fehler des einen System in das vorgelagerte System implementieren?
Aber man muss doch irgendwo ansetzen.
Es geht doch im Kern um die Frage, wie das Setting sein muss, damit Kinder einen angemessenen Spracherwerb haben. Wir nehmen aktuell eine zunehmende Fehlversorgung von Kindern wahr. Kinder mit Problemen in der Sprachentwicklung erhalten Logopädie, obwohl sie dort gar nicht hingehören. Gleichzeitig erhalten viele Kinder mit logopädischem Bedarf keine Sprachtherapie. Hier muss man ansetzen und die bestehenden Systeme und vorliegenden Daten besser verknüpfen. Dieses Problem beheben wir nicht mit zusätzlichen Screenings.
Wie begründen Sie das?
Es gibt bereits verschiedene Instrumente zur Erfassung der Sprachentwicklung, die aber nicht aufeinander abgestimmt sind – insbesondere die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen und die Schuleingangsuntersuchungen, die sehr gut angenommen werden. Aber auch die Beobachtungsverfahren, die in allen Kitas vorgesehen sind und dort regelmäßig stattfinden. Das Problem ist derzeit der Datenaustausch und die Datenverarbeitung. Das ist ein Problem unserer digitalen Infrastruktur, wie wir es in vielen Bereichen in Deutschland haben. Und es ist ein Problem der fehlenden Steuerung, Planung und Organisation.
Warum wird das überhaupt gefordert, denn es gibt ja in allen Bundesländern bereits Vorgaben zur Erfassung des Sprachstands?
Stimmt. Aber vielfach ist gar nicht klar, was eigentlich gefordert wird, weil die Begriffe oft irreführend verwendet werden. Es gibt auch eine gewisse Unschärfe. Die Erfassung der sprachlichen Entwicklungen von Kindern ist zwangsläufig immer ein mehrschichtiges Verfahren. Daraus folgt: Ein einziges Testverfahren einzuführen, hilft überhaupt nicht.
Ein neues Screeningverfahren führt zwangsläufig zunächst zu einem rasanten Anstieg von negativ auffälligen Kindern, wie es Bayern derzeit erlebt. Dann braucht es eine weitere Abklärung, was die Ursache dieser Auffälligkeit ist. Denn die Ursachen für sprachliche Defizite oder Sprachentwicklungsverzögerungen können sehr unterschiedlich sein. Es kann eine auditive Wahrnehmungsstörung vorliegen oder ein Problem der Mundmotorik oder gar ein anderes Problem wie eine Aufmerksamkeitsstörung, die die Sprachentwicklung bremst.
Ohnehin sind die Bundesländer für die Kitas zuständig.
Und die haben längst verbindliche Bildungspläne, die den Kitas vorschreiben, regelmäßig die sprachliche Entwicklung und auch die gesamte Entwicklung des Kindes zu erheben und zu dokumentieren. Wir haben flächendeckend ein regelmäßiges und anlassloses, meist halbjähriges Beobachtungsverfahren, das auch in allen Einrichtungen angewendet wird, wie jüngst das Deutsche Jugendinstitut erhoben hat.
Wenn man diese Beobachtungsergebnisse regelmäßig mit den Ergebnissen der kinderärztlichen U-Untersuchungen abgleichen würde – wie es auch schon viele Kitas praktizieren – dann haben wir einen ziemlich lückenlosen Status bei der Sprachentwicklung von Kindern, zumindest bei denen, die in die Kita gehen. Neue Testverfahren braucht man nicht.
Es gibt mehrere Bundesländer, die bereits auf verpflichtende Sprachförderung nach Tests vor der Einschulung setzen. Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, ob das zum Erfolg führt?
Nein. Es gibt in Deutschland kein vorstrukturiertes Sprachförderprogramm, dessen Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen ist. Das gilt übrigens auch für das Hamburger Modell. Die meisten additiven Maßnahmen, die nach dem Pisa-Schock gestartet wurden, sind längst wieder eingestellt worden, weil sie nicht hilfreich waren. Anders sieht es mit der alltagsintegrierten sprachlichen Bildung aus, die sich in vielen Kindertageseinrichtungen durchgesetzt hat, und die auch Bestandteil des Bundesprogramms Sprach-Kitas war.
Diese zeigt Wirksamkeit, auch wenn sie hohe Ansprüche an die Fachlichkeit des pädagogischen Personals stellt. Aktuell stehen wir wieder vor der gleichen Frage wie nach dem Pisa-Schock, und es ist erschreckend zu sehen, dass wieder die überholten Vorschläge gemacht werden, die sich längst als unbrauchbar erwiesen haben. Es ist zum Verzweifeln, lernen wir denn gar nichts aus der Geschichte? (dpa/mig) Interview Leitartikel Panorama
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