
Zehn Jahre nach dem Prozess
Der „Buchhalter von Auschwitz“
Vier Jahre Haft wegen Beihilfe zum Massenmord in Auschwitz: So lautete das Urteil gegen den früheren SS-Mann Gröning. Der Prozess vor zehn Jahren bewegte viele und brach mit der Nachkriegsjustiz.
Von Britta Körber Montag, 14.07.2025, 13:51 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 14.07.2025, 13:54 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Mit seinem wegweisenden Urteil im Lüneburger Auschwitz-Prozess schrieb sich das kleine Landgericht der Hansestadt im Juli 2015 in die Geschichtsbücher. Richter Franz Kompisch fand deutliche Worte zu den Verbrechen von Oskar Gröning, der als SS-Mann im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt war und verurteilte den 94-Jährigen wegen Beihilfe zu Mord in 300.000 Fällen. Revisionsanträge und ein Gnadengesuch blieben erfolglos, vor Antritt der vierjährigen Haft starb der geständige Angeklagte.
Das Besondere im dreimonatigen Prozess in der eigens als Verhandlungsort angemieteten Ritterakademie waren die bewegenden Aussagen der von weit her angereisten Überlebenden. In erschütternden Details berichteten sie, wie sie als Kinder aus Ungarn mit ihren jüdischen Familien erst verschleppt und dann von ihren Angehörigen getrennt wurden, die in den Gaskammern starben.
Die Geschichten der Zeitzeuginnen und -zeugen wie von Irene Weiss, die erzählte, wie sie als Zwölfjährige fürchterliche Angst vor den SS-Soldaten hatte, bewegten alle Zuhörer. Die Atmosphäre war beklemmend, Reporter und Zuschauer hatten oft Tränen in den Augen. Für Weiss war es endlich die Gelegenheit, ihre Vergangenheit vor einem deutschen Gericht zu erzählen.
Das Besondere war aber auch, dass Gröning gestehen wollte. „Er hat sich der Verantwortung gestellt“, sagt der Kölner Strafrechtler Cornelius Nestler der Deutschen Presse-Agentur. „Endlich einer und der Einzige, der sich hingesetzt und gesagt hat: Ich fand das damals gut, aber heute ganz entsetzlich.“
Gröning räumte Beteiligung und Mitschuld am Holocaust ein
Er habe sich moralisch der Verantwortung gestellt, findet Nestler, der damals Dutzende der mehr als 60 Nebenkläger vertrat, vor allem aus Kanada und den USA. Gröning habe Aufklärung gewollt, das hätten schon Interviews in mehreren Medien zuvor gezeigt.
Der betagte und sichtlich geschwächte Angeklagte räumte im Prozess seine Beteiligung und moralische Mitschuld am NS-Massenmord ein. Er gestand, Geld von Verschleppten gezählt und zur SS nach Berlin weitergeleitet zu haben. Dies brachte ihm den Beinamen „Buchhalter von Auschwitz“ ein. Er sagte aus, zwei- bis dreimal während der Ungarn-Aktion 1944 vertretungsweise Dienst an der Rampe getan zu haben, wo Deportierte zur Ermordung selektiert wurden. Mehr als 300.000 ungarische Juden starben.
Für seinen Dienst könne der damalige Freiwillige der Waffen-SS sich nicht auf einen Befehlsnotstand und den damaligen Drill zum Gehorsam berufen, sagte Richter Kompisch in der Urteilsbegründung. Zwar habe es Indoktrination gegeben, aber das Denken habe das nicht ausschalten können.
Kompisch kritisierte deutsche Rechtsprechung
Lange hätten die Gerichte nur eine ganz bestimmte Beteiligung an der tatsächlichen Tötung Einzelner verfolgt, kritisierte Kompisch, er nannte die Rechtsprechung „seltsam“ und sprach von „absurder Zersplitterung“. „In Auschwitz durfte man nicht mitmachen“, zitierte er einen Satz Nestlers und übte Kritik an der nachlässigen Verfolgung von KZ-Tätern durch die Nachkriegsjustiz.
Deutsche Gerichte hatten jahrzehntelang ganz anders geurteilt. Die Justiz habe die konkrete Beteiligung an einzelnen Morden des Holocaust zur Bedingung für eine Verurteilung gemacht, sagte Kompisch. Von den 6.500 SS-Männern, die in Auschwitz über die Jahre ihren Dienst taten, sei so nicht einmal ein Zehntel verurteilt worden.
Mit dem Urteil ging das Gericht über das von der Anklage geforderte Strafmaß hinaus. Die Staatsanwaltschaft hatte dreieinhalb Jahre Haft beantragt, wovon ein Teil als verbüßt angesehen werden sollte, weil eine Verurteilung schon vor Jahrzehnten möglich gewesen wäre. Erste Ermittlungen hatte es schon 1977 gegeben, sie wurden 1985 eingestellt. Die Verteidiger hatten auf Freispruch plädiert, weil Gröning den Holocaust im strafrechtlichen Sinne nicht gefördert habe.
Urteil wertet Auschwitz als Einrichtung zum Massenmord
„Herr Kompisch war einer, der es mal richtig gemacht hat“, betont Nestler auch heute. Im Gegensatz zu anderen Nebenklägervertretern legte er keine Revision für seine Mandanten ein. Schon nach dem Urteil meinte er seinerzeit, endlich sei der einstige hessische Chefankläger Fritz Bauer gewürdigt worden. Fünf Jahrzehnte nach den Urteilen im Frankfurter Auschwitz-Prozess sagte Nestler damals: „Mit dem Lüneburger Urteil hat Fritz Bauer endlich ein Gericht gefunden, das seine Rechtsauffassung übernommen hat.“
Das Urteil habe Auschwitz „insgesamt als Einrichtung zum Massenmord“ gewertet und werde damit „historisch wie strafrechtlich dem Unrecht der SS-Täter gerecht“. Der damalige Chefankläger habe schon in den 1960er Jahren die Auffassung vertreten, „dass Auschwitz insgesamt eine Einrichtung zum Massenmord war, an dem sich jeder dort eingesetzte SS-Angehörige beteiligt hat.“
Während andere Nebenklage-Vertreter Revision einlegten, argumentierte Nestler, dass der Unterscharführer der Waffen-SS nur ein Gehilfe des Vernichtungssystems in Auschwitz und eben kein Täter gewesen sei. „Täter wäre er nur auf der Grundlage der richtigerweise aufgegebenen Rechtsprechung der 60er Jahre, die nicht auf die Tat, sondern allein auf die Gesinnung abstellte und mit dieser Methode aus fast allen Tätern nur Gehilfen machte“. (dpa/mig) Aktuell Panorama
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