
Antikolonial & Solidarisch
Arbeitsmigration neu denken
Arbeitsmigration gilt in Deutschland als Import von Fachkräften in den Arbeitsmarkt – ein nützliches Werkzeug. Ihr kolonialgeschichtlicher Kontext wird ausgeblendet, ebenso die vielschichtige Rolle der Arbeitsmigranten. Zeit, umzudenken.
Von Dr. Soraya Moket Donnerstag, 10.07.2025, 11:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 10.07.2025, 11:28 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Ende Juni fand in Sevilla die vierte UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung – ein globaler Gipfel, der Armut, Klimagerechtigkeit und strukturelle Ungleichheiten thematisiert. Während dort intensiv über globale Solidarität gesprochen wurde, vollziehen Europa und Deutschland eine fatale Rückwärtsbewegung: Nationaler Egoismus triumphiert, Budgets der Entwicklungszusammenarbeit werden drastisch gekürzt, und politische Verantwortung wird in die Ferne verschoben. Deutschland steht an einem historischen Scheideweg: Will es endlich eine postkoloniale, gerechte Weltordnung mitgestalten – oder weiterhin in alten, kurzsichtigen Machtlogiken verharren?
Die „Gastarbeiter:innen“-Anwerbung der 1960er- und 70er-Jahre war kein zufälliges Kapitel der Geschichte, sondern das direkte Resultat jahrzehntelanger kolonialer Ausbeutung und ökonomischer Abhängigkeiten. Die deutsche Industrie hat von den Krisen in den Herkunftsländern massiv profitiert – doch über diese tiefgreifenden historischen Zusammenhänge wird bis heute kaum gesprochen. Migration wird weiterhin auf ein reines Arbeitsmarktinstrument reduziert, das Menschen zu bloßen „Fachkräften“ degradiert und die fortbestehenden Machtasymmetrien bewusst verschleiert.
Dieses Versäumnis offenbart erschreckend klar: Wir haben aus der Geschichte nichts gelernt und wiederholen alte Fehler auf Kosten der Menschenwürde und globalen Gerechtigkeit. Wer Migration diskutiert, ohne diese Geschichte zu reflektieren, verkennt den Kern des Problems. Es geht nicht nur um Fachkräfte – es geht um Gerechtigkeit, um das radikale Infragestellen globaler Machtgefälle.
Migration ist kein Reparaturbetrieb
Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, stehen viele Länder des Globalen Südens und Deutschland erneut an einem Wendepunkt: Über 12 Millionen Erwerbstätige der Babyboomer-Generation gehen bis 2035 in Deutschland in Rente; bereits 2024 waren 1,7 Millionen Stellen unbesetzt – besonders in Pflege, Handwerk, IT, Bildung und Gastronomie.
„Trotz bilateraler Abkommen, etwa mit Marokko, kommen nur wenige Fachkräfte tatsächlich nach Deutschland. Warum?“
Diese beiden Realitäten sind strukturell verbunden: Deutschland braucht dringend qualifizierte Fachkräfte, während junge Menschen im Globalen Süden nach Perspektiven suchen. Migration kann hier als sozial gerechte, politisch gesteuerte Brücke wirken – nicht als Flucht aus der Not, sondern als Mobilität mit Zukunft.
Doch die Realität sieht anders aus: Trotz bilateraler Abkommen, etwa mit Marokko, kommen nur wenige Fachkräfte tatsächlich nach Deutschland – rund 2000 in den letzten Jahren. Warum? Weil die Botschaften überfordert sind, Visumstermine Mangelware, die Bearbeitung von Anträgen stockt. Familiennachzug wird auf Jahre hinaus verschoben; manche Familien warten zwei Jahre auf einen Termin. Bürokratische Hürden ersticken eine eigentlich sinnvolle Arbeitsmigration.
Migranten:innen sind politische und wirtschaftliche Akteur:innen
Migranten:innen sind keine austauschbaren Arbeitskräfte, sondern zentrale Akteur:innen eines globalen Geflechts. 2024 flossen in afrikanische Länder Privatüberweisungen in Höhe von rund 100 Milliarden US-Dollar – zehnmal mehr als das gesamte deutsche BMZ-Entwicklungsbudget. Diese Gelder finanzieren Bildung, Gesundheit und unternehmerische Unabhängigkeit vor Ort – von unten nach oben, nicht top-down.
„Berlin tut so, als sei Migration ein Ausnahmephänomen, das sich durch Verwaltung und Kontrolle ‚lösen‘ lässt.“
Doch Berlin tut so, als sei Migration ein Ausnahmephänomen, das sich durch Verwaltung und Kontrolle „lösen“ lässt. Diese Haltung ist realitätsfern und politisch gefährlich. Sie reproduziert koloniale Steuerungslogiken: Kontrolle statt Kooperation, Ausbeutung statt Solidarität.
Wer Entwicklung kürzt und Aufrüstung erhöht, zementiert Ungleichheit
Während in Sevilla über Solidarität debattiert wird, kürzt die Bundesregierung das Budget des Entwicklungsministeriums (BMZ). Im Entwurf für den Bundeshaushalt 2025 sind nur noch 10,3 Milliarden Euro vorgesehen. 2024 waren 11,2 Milliarden Euro eingeplant gewesen. Gleichzeitig steigen die Militärausgaben auf 72 Milliarden Euro. Wer Aufrüstung priorisiert und Entwicklung abbaut, verhaftet sich in imperialen Denkmustern. Wer Geflüchtete und Migrant:innen als Bedrohung sieht und Zäune baut, ignoriert die Ursachen von Flucht und Migration und verweigert sich globaler Verantwortung.
„Wer Geflüchtete und Migrant:innen als Bedrohung sieht und Zäune baut, ignoriert die Ursachen von Flucht und Migration und verweigert sich globaler Verantwortung.“
Zum 1. Juli 2025 hat Dänemark die EU-Ratspräsidentschaft unter dem Motto „Ein starkes Europa in einer sich verändernden Welt“ übernommen. Doch Premierministerin Mette Frederiksen, Mitglied der dänischen sozialdemokratischen Partei und bekannt für ihre restriktive Migrationspolitik, will diese Linie auf EU-Ebene fortsetzen. Dänemark setzt auf strikte Grenzkontrollen und plant Asylzentren außerhalb der EU – eine Politik, die den Prinzipien globaler Solidarität diametral entgegensteht.
Antikoloniale Arbeitsmigration: Zeit für eine radikale Kehrtwende
Bis 2035 gehen mehr als 12 Millionen Erwerbstätige in Deutschland in Rente, während in Ländern wie Marokko, Senegal oder Nigeria Millionen junger Menschen ohne Perspektive bleiben. Diese Schieflage ist keine Naturgewalt, sondern Ergebnis globaler Machtverhältnisse – und sie ist veränderbar.
Es braucht jetzt einen konsequenten, antikolonialen Politikwechsel:
- Entwicklungspolitik neu denken: Mobilität und gerechte Teilhabe statt einseitiger Arbeitskräfteanwerbung. Partnerschaften auf Augenhöhe, Bildung und Anerkennung in Herkunftsländern fördern, menschenrechtliche Standards entlang der Migrationskette garantieren.
- Diaspora als politische Kraft anerkennen: Migrantische Organisationen institutionell einbinden, Rücküberweisungen strategisch fördern, zirkuläre Migration mit Rückkehr- und Reintegrationsrechten ermöglichen.
- Postkoloniale Kohärenz sicherstellen: Faire Rekrutierung, soziale Rechte, Familiennachzug garantieren, Nachhaltigkeit und Migrationspolitik verzahnen.
- Haushaltspolitisch umsteuern: Gelder von Militärausgaben in Bildung, nachhaltige Entwicklung und faire Partnerschaften umschichten.
Migration braucht Struktur statt punktueller Programme
Es gibt zahlreiche gute Programme, die Pionierarbeit leisten, aber mangels Mittel limitiert in ihrer Wirkung sind. Was fehlt, ist eine dauerhafte, institutionelle Struktur für Arbeitsmigration als gemeinsame strategische Aufgabe:
- Transparente, digitalisierte Rekrutierung
- Anerkennung von Qualifikationen
- Soziale Absicherung und Teilhabe vor Ort
Echte Partnerschaft beginnt mit Haltung
„Migration ist keine Krise, sondern Teil der Lösung. Solange sie als Kostenfaktor oder Sicherheitsrisiko behandelt wird, bleibt ihr Potenzial ungenutzt.“
Migration ist keine Krise, sondern Teil der Lösung. Solange sie als Kostenfaktor oder Sicherheitsrisiko behandelt wird, bleibt ihr Potenzial ungenutzt. Es braucht einen radikalen Paradigmenwechsel – weg von kolonialen Machtmustern, hin zu globaler Solidarität und gerechter Teilhabe.
Deutschland muss jetzt wählen: Will es weiterhin Nutznießer globaler Mobilität bleiben und Macht asymmetrisch ausspielen – oder als glaubwürdiger Partner für eine solidarische, antikoloniale und zukunftsfähige Migrationspolitik vorangehen?
Wenn dies gewollt ist, muss das BMZ eine zentrale Rolle bei der Neugestaltung und Umsetzung einer solidarischen, antikolonialen und zukunftsfähigen Migrationspolitik übernehmen. Meinung
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