
10. Jahrestag
Was 2015 wirklich geschah
2015 gilt als Jahr großer Fluchtbewegungen aus anderen Kontinenten nach Europa. Doch das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Zeit, dieses historische Ereignis richtig einzuordnen.
Von Tobias Gehring Donnerstag, 19.06.2025, 10:15 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 19.06.2025, 12:23 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Manchmal werden Daten zu Symbolen. Der 11. September ist nicht irgendein Tag. Und 2015 ist nicht irgendein Jahr. Wenn ein Satz wie „2015 darf sich nicht wiederholen“ fällt, wenn „ein neues 2015“ beschworen wird, weiß auch zehn Jahre später fast jeder, was gemeint ist. Und wer es nicht weiß, dem hilft Wikipedia auf die Sprünge. Ruft man den Jahresartikel der Online-Enzyklopädie auf, sieht man ganz oben das Bild einer Schar Menschen, einer davon mit einer EU-Flagge, die über eine Autobahn laufen. „Millionen Flüchtlinge erhoffen sich in einem Land der Europäischen Union ein sichereres oder besseres Leben und stellen damit die aufnehmenden EU-Staaten vor große Herausforderungen“, informiert der Begleittext.
Auf der Flucht im eigenen Land
Der Wikipedia-Artikel oder Metaphern von einer „neuen Völkerwanderung nach Europa“ oder einem „Exodus aus Afrika“ deuten Fluchtmigration als interkontinentale Migration über lange Distanzen. Doch zumeist ist das Gegenteil der Fall: Die große Mehrheit der geflüchteten Menschen verlässt nicht einmal ihr eigenes Land. So beziffert das UN-Flüchtlingshilfswerk die Gesamtzahl der Geflüchteten zum Jahresende 2015 auf 65 Millionen. Zwei Drittel davon, 41 Millionen Menschen, waren als Binnenvertriebene auf der Flucht innerhalb ihres Landes.
Nähere Informationen zu diesen in politischen und medialen Diskursen über Fluchtmigration oft vernachlässigten Menschen liefert die Nichtregierungsorganisation Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC). Unter anderem veröffentlicht sie einen jährlichen Bericht, der über die Situation von Binnenvertriebenen rund um die Welt informiert. Gemäß dem Bericht des IDMC über 2015 wurden 9 der 41 Millionen Binnenvertriebenen erst im Verlauf des Jahres 2015 durch Konflikte und Gewalt in die Flucht getrieben. Allen voran der im Vorjahr ausgebrochene Bürgerkrieg im Jemen zwang mehr als 2 Millionen Menschen dazu, innerhalb ihres Landes zu flüchten. Aber auch der syrische Bürgerkrieg erzeugte im Verlauf des Jahres 2015 1,3 Millionen neue Binnenvertriebene innerhalb Syriens. Dies allein entspricht recht genau der Gesamtzahl aller Menschen – nicht nur aus Syrien, sondern aus sämtlichen Herkunftsländern – die 2015 in 28 EU-Staaten, Norwegen und der Schweiz Asyl beantragten.
Der globale Süden im Zentrum
Zugleich lassen diese Beispiele erkennen, wo sich Fluchtmigration 2015 in erster Linie abspielte: im globalen Süden. Allen voran Konflikte und Gewalt in asiatischen Ländern (neben dem Jemen und Syrien insbesondere auch im Irak und Afghanistan) sowie in afrikanischen Staaten wie der Demokratischen Republik Kongo, Nigeria oder der Zentralafrikanischen Republik machten 2015 jeweils hunderttausende Menschen zu Binnenvertriebenen. Weitere 200.000 Menschen wurden im Verlauf des Jahres 2015 in Kolumbien durch den dortigen Konflikt vertrieben. Hingegen kam es nur in einem einzigen Land des globalen Nordens, der Ukraine, 2015 zu Binnenvertreibungen in nennenswertem Ausmaß.
Und auch internationale Fluchtmigration aus einem Land in ein anderes spielte sich 2015 beileibe nicht allein auf dem Mittelmeer und der Balkanroute ab. Vielmehr ereigneten sich gleichzeitig umfangreiche Fluchtbewegungen innerhalb des globalen Südens, von denen Europa nahezu unberührt blieb. In Afrika ist hier etwa der Bürgerkrieg im Südsudan zu nennen, der große Flüchtlingsströme in Nachbarländer wie Uganda und Äthiopien auslöste. So flüchteten allein in der ersten Jahreshälfte 2015 weit mehr als 100.000 Menschen aus dem Südsudan. Allen voran aber nahm die Türkei 2015 fast eine Million Flüchtlinge, zumeist aus Syrien, auf – zusätzlich zu 1,5 Millionen Flüchtlingen, die bereits zuvor im Land lebten.
Damals wie heute
Festzuhalten ist also: Fluchtmigration im Jahr 2015 war in erster Linie Binnenvertreibung, zumeist in asiatischen und afrikanischen Ländern. Und auch internationale Fluchtmigration beschränkte sich nicht allein auf Fluchtmigration aus Asien und Afrika nach Europa. Vielmehr verlief sie zwischen verschiedenen Ländern des globalen Südens, in aller Regel zwischen benachbarten Staaten wie Syrien und der Türkei oder dem Südsudan und Uganda.
Geändert hat sich daran auch heute, zehn Jahre später, nichts. Der soeben veröffentlichte Jahresbericht des UNHCR beziffert die Anzahl der Geflüchteten zum Jahresende 2024 auf 123 Millionen. 74 Millionen dieser Menschen sind Binnenvertriebene im eigenen Land. Und von den Menschen, die als Flüchtlinge in einem anderen Land Zuflucht finden, leben zwei Drittel in Nachbarstaaten ihrer jeweiligen Herkunftsländer. Exemplarisch veranschaulicht dies die Fluchtmigration infolge des gegenwärtigen Bürgerkrieges im Sudan, der derzeit quantitativ bedeutendsten Fluchtursache: „14,3 Millionen Sudanes:innen waren zum Jahresende 2024 auf der Flucht“, schreibt das UNHCR. „Fast alle im eigenen Land oder in Nachbarländern.“ Meinung
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