
Abgestempelt
Wir sind Erzähler, keine Geschichtenerfinder
Wenn die Asylbehörde Beweise für unsichtbare Wunden verlangt und Schmerz als unglaubwürdig abtut, bleibt nur eins: erzählen. Immer wieder. Bis man uns endlich glaubt.
Von Sara Motebaheri Dienstag, 27.05.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 27.05.2025, 11:23 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
In einer Welt, in der Erzählungen zur Grundlage politischer Entscheidungen geworden sind, ist unsere Stimme oft nur ein Echo, das in den unbeantworteten Fluren der Asylbürokratie verhallt.
Man wirft uns „Geschichtenerfindung“ vor – ein Verbrechen, zu dem angeblich nur wir fähig sind, weil wir keine Dokumente über Folter, keine Bilder unserer Wunden, keine offiziellen Berichte über Bedrohungen vorweisen können. Als wäre Wahrheit nur das, was in den offiziellen Medien Ihres Landes dokumentiert ist, und alles, was in den Nächten unseres Lebens geschah, bloße Fantasie.
Im Iran ist unser Verbrechen das Leben. Das Verlangen nach Brot und Freiheit. Die Frage nach der Zukunft unserer Kinder. Und dieses Verlangen macht uns zu „Randalierern“, „Regimegegnern“, „Wurzellosen“ – nicht weil wir Waffen trugen, sondern weil wir den Mut hatten, zu sprechen.
Menschen, deren Schmerz sozial ist, aber politisch abgestempelt wird.
Von Mahsa bis Nika, von den Aufständen 2017 bis heute – jeder Schrei, jeder Blutstropfen ist ein ungehörtes Dokument, wenn er nicht ins Kamerabild passt.
Heute kennt diese Tragödie keine Grenzen mehr. Wir sind dem Tod entkommen, aber wir leben noch immer unter derselben dunklen Wolke. Eine Wolke, die nicht nur über dem Iran, sondern auch über uns im Exil schwebt.
„Asylanträge verlangen Beweise für Leiden, die man nicht sehen kann.“
Denn ihre Asylanträge verlangen Beweise für Leiden, die man nicht sehen kann – Wunden, die nicht auf unserer Haut, sondern in unserer Seele wohnen.
Während das Leid anderer Nationen – wie das der Afghanen – zu Recht ohne Zweifel anerkannt wird, müssen wir Iraner unser Leid beweisen. Beweise vorlegen. Zeugen benennen. Unser Trauma dokumentieren.
Wir müssen erklären, wie Mahsa Amini gestorben ist, wie Nika Shakarami verschwand.
Wir müssen Hunderte aufzählen, die ihre Augen verloren – aber weil ihre Namen nicht in den Medien standen, blieb ihre Wahrheit unsichtbar.
Hier, im Land der Zuflucht, gibt es Mütter, die um ihre Kinder trauern, und Männer und Frauen, die einen Teil ihres Körpers auf den Protestplätzen zurückließen – und heute mit verletztem Körper und brennender Seele im Exil atmen.
Wenn mein Volk seine Heimat verlässt und in ein fremdes, sicheres Land flieht, ist das keine einfache Entscheidung.
„Wir haben unsere Häuser, Erfolge, Familien und Identitäten zurückgelassen.“
Niemand verlässt seine Heimat, seine Sprache, seine Geschichte und seine Erinnerungen ohne tiefen Schmerz.
Diese Flucht ist nicht aus dem Traum vom Komfort geboren, sondern aus dem Zwang des Leidens.
Wir haben unsere Häuser, Erfolge, Familien und Identitäten zurückgelassen.
Wie Neugeborene in müden Körpern lernen wir die Sprache einer neuen Welt, bauen Vertrauen neu auf und suchen Hoffnung unter einem fremden Himmel.
Und wenn wir hören, dass über 3.500 Asylanträge allein in den ersten Monaten des Jahres abgelehnt wurden – nicht weil keine Gefahr bestand oder Beweise fehlten, sondern weil unsere Geschichten als „wiederholend“ und unser Schmerz als „unglaubwürdig“ abgetan wurden – kommt eine neue Wunde zu den alten hinzu.
Ist jemand ein Lügner, weil er die Wahrheit mehrmals sagt?
Ist Schmerz weniger wert, wenn ihn viele teilen?
Ist Wiederholung nicht ein Zeichen für systematische Unterdrückung?
Hier fühlt man sich nicht einem unparteiischen System gegenüber, sondern einer hohen Mauer des Misstrauens – einer Mauer, gebaut nicht aus Recht, sondern aus Müdigkeit und Desinteresse.
Und deshalb werden wir – ich – und all jene, die diesen Schmerz erlebt haben, standhalten.
„Und bis die Wahrheit anerkannt wird, werden wir nicht schweigen.“
Nicht aus Mitleid. Nicht aus Bettelei.
Sondern um eine Stimme zu sein –
Die Stimme derer, die zum Schweigen gebracht wurden.
Wir sind Erzähler, keine Geschichtenerfinder.
Und bis die Wahrheit anerkannt wird, werden wir nicht schweigen. Meinung
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