
Dobrindt in Erklärungsnot
Frontex-Zahlen widerlegen Notwendigkeit deutscher Grenzkontrollen
Muss Deutschland seine Grenzen kontrollieren, weil die Migrationspolitik der EU versagt? Neue Zahlen bringen die Bundesregierung in Erklärungsnot. Danach ist die EU-Politik erfolgreich – von einem Notstand kann keine Rede sein. Die Kritik wird deutlicher.
Mittwoch, 14.05.2025, 11:15 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 14.05.2025, 11:21 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
In der Europäischen Union sind in den ersten vier Monaten des Jahres deutlich weniger irreguläre Grenzübertritte registriert worden als im Vorjahreszeitraum. Die Gesamtzahl sank um knapp 30 Prozent auf rund 47.000, wie aus neuen EU-Daten hervorgeht. Der stärkste Rückgang wurde demnach auf der sogenannten Westbalkanroute verzeichnet, wo nur noch rund 3.100 Menschen gezählt wurden – ein Minus von 58 Prozent.
Aber auch auf allen anderen wichtigen Routen gingen die Zahlen zurück. So gab es auf der zentralen Mittelmeerroute von Nordafrika in Richtung Italien einen Rückgang der irregulären Grenzübertritte um drei Prozent auf rund 15.700. Auf der östlichen Mittelmeerroute in Richtung Griechenland sanken die Zahlen um 30 Prozent auf rund 12.200. Und in Richtung spanisches Festland kamen über das Meer nur noch rund 3.500 Menschen (minus 10 Prozent), in Richtung Kanarische Inseln lediglich noch rund 10.400 (minus 34 Prozent).
EU-Kommissar: EU-Politik erfolgreich
Der für Migration zuständige EU-Kommissar Magnus Brunner wertet die Entwicklungen als Beleg für den Erfolg der gemeinsamen europäischen Politik. „Das zeigt, dass unsere Maßnahmen greifen, gerade auch das verstärkte Engagement mit Partnerländern außerhalb der EU“, meint der Österreicher. Gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten arbeite man daran, die irreguläre Migration weiter einzudämmen.
Dabei gehe es auch darum, Schleppern das Handwerk zu legen, sagte Brunner. Schätzungen zufolge kassieren diese zum Teil fünfstellige Beträge für die Reiseorganisation. Die meisten Menschen kamen zuletzt aus den Ländern Bangladesch, Afghanistan und Mali an.
Frontex-Zahlen vs. Bundesregierung
Zusammengestellt wurden die aktuellen Daten von der EU-Grenzschutzagentur Frontex mit Sitz in Warschau. Sie hat nach eigenen Angaben derzeit 3.200 Beamte entlang der EU-Außengrenzen im Einsatz. Sie arbeiten dort mit den nationalen Behörden zusammen und überwachen auch Meeresgebiete, in denen immer wieder Migranten in Seenot geraten. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt, dass allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres 555 Menschen auf See ums Leben gekommen sind.
Für die neue deutsche Bundesregierung könnten die jüngsten EU-Zahlen unterdessen ein Problem darstellen. Grund ist, dass sie die aktuell verstärkten Kontrollen an den deutschen Grenzen unter anderem mit unzureichenden Fortschritten in der EU-Migrationspolitik erklärt. Grundsätzlich sollen im sogenannten Schengen-Raum eigentlich nur die EU-Außengrenzen kontrolliert werden, um innerhalb des Schengen-Raums einen freien Personen- und Warenverkehr ohne lästige Kontrollen zu ermöglichen.
Dobrindt: „Das ist nationales Recht“
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt verweist bei der Zurückweisung von Asylsuchenden auf nationales Recht. „Es werden Menschen zurückgewiesen, die auch Asyl beantragen bei uns, weil sie aus einem sicheren Drittstaat kommen, dort nicht verfolgt sind“, sagte der CSU-Politiker im ZDF-„Morgenmagazin“. Deutschland sei von sichereren Drittstaaten umgeben. „Das ist unser nationales Recht. Das wenden wir an.“
Laut dem Paragrafen 18 im deutschen Asylgesetz können Asylsuchende unter anderem dann zurückgewiesen werden, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat einreisen. Der Passus im deutschen Gesetz steht im Widerspruch zum europäischen Dublin-System, nachdem die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, bei Asylsuchenden zumindest zu prüfen, welcher Staat für das Verfahren zuständig ist. EU-Regelungen sind in der Regel höherrangiger als nationales Recht.
Dobrindt in Erklärungsnot
Auf die Frage, ob Deutschland mit seinem Vorgehen nationales Recht über europäisches Recht stelle, sagte der Minister: „Nein, nationales Recht wird schlichtweg angewendet, weil wir es für notwendig halten in dieser Situation.“ Die Nachfrage, ob damit auch Dublin-Drei-Verordnung außer Kraft gesetzt werde, die festlegt, dass jeder Asylantrag inhaltlich geprüft werden muss, ließ Dobrindt unbeantwortet.
Dobrindt bezieht sich auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU. „Das ist eine Ausnahmemöglichkeit, die man nutzen kann, wenn man sie für erforderlich hält, nationales Recht anzuwenden. Das ist das, was wir zurzeit tun.“ Demnach sind den Nationalstaaten Zurückweisungen an den Grenzen ausnahmsweise gestattet, wenn dies für „die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ erforderlich ist – „nationale Notlage“, eine Art Ausnahmezustand. Bundeskanzler Friedrich Merz hatte eine solche Notlage Ende vergangener Woche in Brüssel allerdings dementiert. „Es hat niemand in der Bundesregierung, auch ich persönlich nicht, eine Notlage ausgerufen“, sagte Merz. Die Frontex-Zahlen sprechen Beobachtern zufolge ebenfalls gegen einen Ausnahmezustand.
UNHCR kritisiert Grenzkontrollen
Die verschärften deutschen Grenzkontrollen stoßen auch beim UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) auf Kritik. Das UNHCR sei „besorgt über die jüngste Entscheidung der deutschen Regierung, keine Asylanträge mehr an den Landesgrenzen anzunehmen“, sagte die UNHCR-Repräsentantin in Deutschland, Katharina Thote, der Deutschen Presse-Agentur. Sie forderte die Bundesregierung auf, „sich auf die derzeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten bestehenden Rahmenbedingungen zu konzentrieren, um die Ankunft von Asylsuchenden zu steuern und in der Region gerecht zu verteilen“.
Außerdem zeigen die neuen Frontex-Zahlen, dass nicht alle in der EU ankommenden Flüchtlinge auch dauerhaft dort bleiben wollen. So wurden in den ersten vier Monaten des Jahres rund 18.100 irreguläre Grenzübertritte oder Grenzübertrittversuche in Richtung Großbritannien registriert. Dies waren fünf Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. (dpa/epd/mig) Leitartikel Politik
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