Buchtipp
Asiatische Präsenzen in der Kolonialmetropole Berlin
Europäische Zentren verwandelten sich nicht nur durch transkontinentale Migrationen, sondern auch durch das frühe Kino in einen widersprüchlichen Kolonialraum. Im deutschen Fall reflektierte die aufwändige Produktion exotisierender Kolonialfilme nicht zuletzt die Sehnsucht nach dem gerade verlorenen Imperium.
Dienstag, 09.07.2024, 10:08 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 09.07.2024, 11:02 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Das deutsche Kolonialreich umfasste nicht nur weite Teile Afrikas, Ozeaniens und chinesische Gebiete, sondern bestand im Kern aus dem Deutschen Reich selbst, mit Berlin als politischem und kulturellem Zentrum. Europäische Städte wie Berlin veränderten sich in diesem Prozess fundamental. Neben Migrationsprozessen hing der urbane Umbau, in der die europäische Stadt sich zur globalen Kolonialmetropole transformierte, auch mit ihren neuen politischen, administrativen, ökonomischen, wissenschaftlichen und nicht zuletzt kulturellen Funktionen als Zentrum des weltumspannenden Kolonialreichs zusammen. So entstand in Berlin ein Netzwerk an kolonialen Orten. Sie bildete eine neue Infrastruktur aus, die sich etwa in der Nachrichtenübermittlung und Tropenmedizin innovativer Technologien bediente. Auch das Medium Film und das Massenerlebnis im Kino stellen gewichtige kulturtechnische Innovationen im Zeitalter des Imperialismus dar.
An dieser thematischen Schnittstelle setzt der frisch erschienene Sammelband an. Er basiert auf der gleichnamigen Film- und Vortragsreihe, die der Herausgeber Kien Nghi Ha im Rahmen des Projekts DARE (Decolonize Anti-Asian Racist Entanglements) 2023 im Berliner Sinema Transtopia kuratiert hat. Diese Auseinandersetzung leistet Pionierarbeit, indem zum ersten Mal die nahezu unbekannte Geschichte Asiatischer Präsenzen in Deutschland anhand kolonialkritischer Filmanalysen exemplarisch aufgearbeitet wird. Der thematische Fokus dieser Untersuchung liegt auf chinesischen, indischen wie orientalisierenden Repräsentationen in deutschen Kinofilmen der Stummfilmzeit, die durch Massenpopularität und nachfolgende Rezeptionen kulturell und zeithistorisch bedeutsam waren.
Gerade die Übergangszeit nach dem Ersten Weltkrieg, die auch das formelle Ende Deutschlands als weltweit agierende Imperialmacht einläutete, ist besonders bemerkenswert, da der kolonial geprägte Blick durch die lokale Kameralinse hindurch Rückschlüsse auf rassistische Wissensbestände und Imaginationen ermöglicht. Verschiedene Buchbeiträge analysieren diese Zusammenhänge am Beispiel monumentaler Kolonialfilme wie „Die Herrin der Welt – Die Freundin des gelben Mannes“ (Joe May, 1919) und „Das indische Grabmal“ (Joe May, 1921), die in der inzwischen weitgehend vergessenen Filmstadt in Berlin-Woltersdorf inszeniert wurden. Auch in anderen Filmen wie „Sumurun“ (Ernst Lubitsch, 1920) wurden gigantische Filmstädte aufgebaut und koloniale Szenarien nachgestellt, die den exotischen Orient und gängige Klischees nach eigenen Vorstellungen und deutschen Vorlieben inszenierten.
„Bei Dreharbeiten wurden koloniale Kriegsgefangene eingesetzt.“
Als epische Blockbuster begeisterten sie nicht nur ein Massenpublikum, sondern führten auch zu einer mehrdeutigen Überlagerung von Fiktion und Realität. So wurden bei Dreharbeiten zum Beispiel koloniale Kriegsgefangene eingesetzt. Nicht nur die Filmkulissen und die Bildproduktion, sondern auch die Konsumption dieser Narrative selbst sind als komplementäre Seiten dieses kulturellen Kolonialraums zu verstehen. Diese kostenaufwändigen Monumentalfilme gelten heutzutage als Meisterwerke des Weimarer Kinos.
Als Bestandteil der Mainstreamkultur prägten sie den Weißen deutschen Blick auf die Asiatischen Anderen nicht nur in der Weimarer Republik, sondern auch darüber hinaus. Da Massenfilme gewissermaßen als Software für symbolische wie kollektive Projektionen funktionieren, sind ihre Geschichten mit vielfältigen Bedeutungen aufgeladen. Im damaligen Kontext boten diese Filme mit ihren rassifizierten Rollenbilder emotionale Entschädigung und psychologischen Trost für die unfreiwillige Dekolonialisierung und den damit verbundenen Geltungsverlust an. Das nationale Kino als Sehnsuchtsort verdeutlicht, wie Deutschlands kolonial-rassistische Fantasien und Ambitionen nach dem Abgang des Imperial Germany verstärkt in eine imaginäre Kolonialität überführt wurde.
„Emotionale Entschädigung und psychologischer Trost für die unfreiwillige Dekolonialisierung.“
Die Untersuchung Berlins als kolonialer Kulturraum mit (anti-)Asiatischen Bezügen wird durch Analysen und Gesprächen mit Filmemachende zu zeitgenössischen Dokumentationen ergänzt. Während in „Halfmoon Files“ (Philip Scheffner, 2006) die schwierige Spurensuche nach Kriegsgefangenenlager mit südasiatischen und muslimischen Kolonialsoldaten im Berliner Umland im Vordergrund steht, erzählt Hito Steyerl in ihrem Dokumentarfilm „Die leere Mitte“ (1998) die unterschiedlichen historischen Schichten, die sich im Zentrum der deutschen Hauptstadt abgelagert haben. Auf diese Weise wird die Stadtgeschichte als ein urbaner Resonanzraum verstanden, wo die antisemitischen, kolonialen und rassistischen Triebkräfte der kapitalistischen Moderne sich räumlich überlagern und mit lokalen, nationalen und globalen Ereignissen in Verbindung stehen.
Die verwobene Geschichte des „Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz ist ein interessantes Beispiel. Es wurde 1928 von der jüdischen Familie Kempinski als gigantischer Vergnügungspalast mit exotischer Erlebnisgastronomie, Großraumkino und Tanzsaal eröffnet und in der NS-Zeit „arisiert“. Neben Orientalismus gehörten auch sexistische und rassistische Repräsentationen zu den gängigen Unterhaltungsformaten des ultramodernen Multiplex, der sich in den „wilden Zwanziger Jahren“ in Berlin gerade dadurch zu einem begehrenswerten Ort des extravaganten Nachtlebens stilisierte.
Veranstaltungshinweis: Das Buch wird am 09. Juli 2024 um 18:30 im Berliner SAVVY Contemporary vorgestellt:
Das Buch: Kien Nghi Ha (Hg.) (2024): Asiatische Präsenzen in der Kolonialmetropole Berlin. Localizing Decolonialization – Dekolonialisierung lokalisieren. Berlin: Assoziation A, 200 Seiten. 16 €. Mit Beiträgen von Anujah Fernando, Kien Nghi Ha, Merle Kröger, Yumin Li, Linh Müller, Tobias Nagl, Irit Neidhardt, Subin Nijhawan, Philip Scheffner, Gülşah Stapel und Hito Steyerl.
In diesem Rahmen sind rassifizierte Ikonen wie der chinesisch-amerikanische Schauspielstar Anna May Wong (1905–1961), die wie die berühmte Schwarze Tänzerin Josephine Baker (1906–1975) Ende der 1920er Jahren in Berlin lebte und arbeitete, nicht nur als Opfer der Unterhaltungsindustrie und der gesellschaftlichen Verhältnisse zu diskutieren. Sie waren aktiv Handelnde mit einer eigenen Agenda, die in einer komplexen Konstellation auf unterschiedlichen Ebenen agierten.
Das gilt auch für die in der damaligen Zeit ansässigen Communities of Color, deren Migrationsrouten und Lebenswege direkt oder indirekt durch koloniale Verhältnisse beeinflusst wurden. Auf der einen Seite etablierte die koloniale Expansion Deutschlands konflikthafte Verbindungen, die zur territorialen Einverleibung wie zur demografischen Zwangsvergemeinschaftung der Unterworfenen im Kolonialstaat führte. Auf der anderen Seite erschien Deutschland nicht nur aufgrund seiner intellektuellen und kulturellen Tradierungen, aber auch aufgrund seiner politischen Konkurrenz zu anderen europäischen Kolonialmächten wie England und Frankreich für Exilierte besonders attraktiv. Diese Gründe trugen dazu bei, dass die außereuropäische Einwanderung in imperiale Metropolen in der Folgezeit sichtbar zunahm.
„Menschen aus dem Globalen Süden arbeiteten hier zumeist in unterprivilegierten Positionen.“
Berlin bildete keine Ausnahme, so dass Menschen aus dem Globalen Süden hier zumeist in unterprivilegierten Positionen arbeiteten und eigene Familien aufbauten. Neben Arbeiter:innen waren vor allem Studierende, die meist männlich waren, in ihren Communities organisiert und politisch aktiv. So schrieb die chinesische Studentenvertretung 1920 einen Brief an das Auswärtige Amt, um gegen die herabwürdigende Darstellung ihrer Heimat im Film „Die Herrin der Welt“ zu protestieren.
Zu den größeren Asiatischen Communities in der Weimarer Republik zählte die chinesische, die inzwischen eine 200-jährige Migrationsgeschichte nach Deutschland aufweist und bereits in den 1920er Jahren vielfältig zusammengesetzt war. Während sich in Berlin bürgerliche wie kommunistische Studierende (darunter wichtige Führungsfiguren der Volksrepublik China wie der spätere Außenminister und Ministerpräsident Zhou Enlai oder Zhu De, der Oberkommandierende der Volksbefreiungsarmee) neben proletarischen Kleinhändler:innen in verschiedenen Lebenswelten bewegten, war das chinesische Viertel in Hamburg-St. Pauli bis zur fast völligen Auslöschung in der NS-Zeit von Seemännern geprägt. Andere Asiatische Migranten kamen etwa aus Indien und Korea, so der bekannte antikoloniale Kommunist Virendranath Chattopadhayaya (1880–1937), der in dieser Zeit einige Jahre in Berlin wirkte. Ergänzt werden diese historischen Nachzeichnungen in diesem Buch durch einen Nachruf auf die deutsch-chinesische Communityforscherin Dagmar Yu-Dembski (1943–2023), die aufgrund einer schweren Erkrankung leider nicht mehr für einen Beitrag angefragt werden konnte. (mig) Aktuell Rezension
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