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Keupstraße in Köln (Archiv)

20 Jahre NSU-Anschlag

Steinmeier auf „Birlikte“: NSU beschämend für unser Land

Zum 20. Jahrestag des Kölner NSU-Anschlags kamen Menschen zur Neuauflage des Birlikte-Festes auf der Keupstraße zusammen. Bundespräsident Steinmeier betont, dass Gewalt immer geächtet werden muss – egal von wo sie kommt.

Sonntag, 09.06.2024, 16:59 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 09.06.2024, 16:59 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zum 20. Jahrestag des NSU-Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße zum Zusammenstehen aller Demokraten und Antirassisten aufgerufen. „Es kommt darauf an, dass wir Gewalt im politischen Meinungskampf ächten – ganz gleich, aus welchen Motiven sie sich speist: ob links- oder rechtsextremistisch oder aus religiösem Fanatismus – Gewalt zerstört Demokratie, und das wollen wir nicht“, sagte Steinmeier am Sonntag bei einer Gedenkfeier genau 20 Jahre nach dem Anschlag am 9. Juni 2004.

Bei der Feier wurde auch an den vor einigen Tagen in Mannheim mutmaßlich von einem Islamisten erstochenen Polizisten erinnert. Die Demokratie frage nicht danach, aus welcher Richtung der Extremismus kommt, „der ihr ans Leder will“, sagte Steinmeier. „Die Demokratie fragt nach der Kraft und der Solidarität der Mehrheit, die sie verteidigt!“

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702 Zimmermannsnägel

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos), die vor einigen Jahren von einem rechtsextremistischen Attentäter lebensgefährlich verletzt worden war, sagte: „Wir befinden uns in einem Abwehrkampf der Demokraten.“ Wie dieser Kampf ausgehe, sei noch ungewiss.

Steinmeier schilderte den Ablauf des NSU-Anschlags vor genau 20 Jahren: „702 Zimmermannsnägel wurden später gefunden, jeder einzelne zehn Zentimeter lang. Die Wucht des Sprengstoffs schleuderte die glühenden Nägel Hunderte von Metern weit. Diese Wucht warf Menschen um, die langen Nägel bohrten sich in Körper, die Detonation zerriss Trommelfelle, die Druckwelle verwüstete die halbe Straße.“ 22 Menschen wurden verletzt, einige davon schwer.

Die zweite Bombe

Damit sei der Schrecken für die Anwohner aber noch nicht zu Ende gewesen, so Steinmeier. „Für die Opfer des Anschlags kam das, was manche von ihnen heute ‚die zweite Bombe‘ nennen. Es war die Erfahrung, zunächst nicht als Opfer wahrgenommen zu werden, sondern stattdessen als Verdächtige zu gelten.“ Die Polizei hatte die Täter zunächst in der türkischen Community vermutet und dort jahrelang ermittelt. Erst sieben Jahre später stellte sich heraus, dass die NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt für den Anschlag verantwortlich waren.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagte, es sei die wichtigste Aufgabe eines Staates, Menschen zu schützen. „Vor 20 Jahren hat unser Staat gleich doppelt versagt.“ Er habe den Anschlag nicht verhindert und danach die Opfer als Täter verdächtigt. „Als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen richte ich mich deshalb an alle, denen so lange nicht geglaubt wurde und die ins Visier der Ermittler gerieten, obwohl sie selber Opfer waren. Ich bitte Sie um Entschuldigung“, sagte Wüst.

„Die bittere Wahrheit“

Steinmeier betonte: „Die bittere Wahrheit ist: Wir, Politik, der Staat und seine Sicherheitsbehörden haben die ganze Dimension des rechten Terrors, dessen blutige Spur sich über mehr als zehn Jahre durchs Land zog, lange nicht wahrhaben wollen.“ Die rechtsextreme Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) hatte ab dem Jahr 2000 unerkannt zehn Morde in ganz Deutschland verübt. Opfer waren neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft sowie eine Polizistin.

Dass der NSU so lange habe morden können, sei „beschämend für unser Land“, gestand der Bundespräsident ein. Doch als einzige Staatsform besitze die Demokratie die Fähigkeit, Fehler aufzuarbeiten. Genau das sei inzwischen geschehen.

Sicherheitsüberprüfung vor Beginn des Festes

„Es ist wichtig, dass der Staat sich wehrhaft gegen Extremisten stellt“, sagte Steinmeier. „Aber es ist genauso wichtig, dass das Engagement der Bürgerinnen und Bürger dazukommt. Ich bin froh, dass die Menschen aktiv geworden sind, dass sie zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, um für ein friedliches, demokratisches Deutschland zu streiten und zu demonstrieren. (…) Die Demokratie wird im Kleinen verteidigt, im Alltag, es kommt dabei auf jede und jeden Einzelnen an.“ In der Keupstraße habe Engagement Tradition.

Köln feierte am Sonntag in der Keupstraße ein Kulturfest unter dem Motto „Birlikte“ – türkisch für „Zusammenstehen“. Das Festival sollte für ein respektvolles und friedliches Zusammenleben werben und das multikulturelle Miteinander feiern, das die beiden Nazis hatten zerstören wollen. Steinmeier sprach auch mit den beiden Friseuren Hasan und Özcan Yıldırım, vor deren Salon das Fahrrad mit der Nagelbombe abgestellt worden war. Wegen einer Sicherheitsüberprüfung – ein Spürhund hatte angeschlagen – verzögerte sich der Beginn des Festes um mehr als eine Stunde.  (dpa/mig) Aktuell Panorama

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