Studie
Online-Antisemitismus: „Wir kennen nur die Spitze des Eisbergs“
Ein Forscherteam hat über Jahre den Antisemitismus in den Kommentarspalten und Social-Media-Accounts deutscher, britischer und französischer Medien ausgewertet. Das Fazit: Vieles läuft codiert über Wortspiele, Anspielungen, rhetorische Fragen.
Donnerstag, 18.04.2024, 15:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 18.04.2024, 15:20 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
Latenter Antisemitismus in den sozialen Medien ist einer Studie der Technischen Universität Berlin (TU) zufolge nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober in puren Hass und Gewaltverherrlichung umgeschlagen. In dem länderübergreifenden Forschungsprojekt habe erstmals ein internationales Wissenschaftsteam seit 2020 untersucht, wo und wie Antisemitismus in den Kommentarbereichen seriöser deutscher, britischer und französischer Medien offen oder verdeckt vorkommt, hieß es bei der Vorstellung der Ergebnisse am Donnerstag in Berlin.
Studienleiter Matthias Becker vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin sagte, es seien 130.000 Nutzer-Kommentare auf den Zeitungs-Webseiten sowie auf deren Auftritten bei Facebook, Youtube, X (vormals Twitter), Instagram und TikTok ausgewertet worden. Darunter waren Medien wie der britische „Guardian“, die französische „Le Monde“ und „Die Zeit“.
Antisemitismus meist codiert
Becker zufolge wird ein Großteil der antisemitischen Aussagen in diesem „politisch gemäßigten Online-Milieu“ zumeist codiert ausgeführt. „80 bis 85 Prozent des Antisemitismus sind implizit, also in Form von Anspielungen, Wortspielen, rhetorischen Fragen“, sagte er. Dazu gehörten Wortspiele wie „Zionazis“ und „Satanyahu“ sowie Anspielungen wie „Globalisten mit Schläfenlocken“ oder „jemand sollte Soros eine ‚Dusche‘ geben“, sagte er.
Der 7. Oktober habe dann vorübergehend international eine völlig neue Form antisemitischer Kommunikation hervorgerufen, sagte Becker. Zudem habe sich die Anzahl judenfeindlicher Kommentare und Reaktionen verdreifacht. Der Diskurs habe sich von Stereotypen und Analogien entfernt und sei in sogenannte Selbstpositionierungen umgeschlagen.
Paradigmenwechsel am 7. Oktober
„Der Hamas-Terror vom 7. Oktober wurde von den Userinnen und Usern offen gutheißen, begrüßt und gerechtfertigt, und Gewalt hat den Ton angegeben“, sagte Becker. Dies reiche von Kommentaren wie „Das sollte jetzt jeden Tag passieren“ über „Die weiblichen Opfer verdienen das“ bis hin zu „Ich will, dass Juden umkommen, weil sie das Übel der Welt sind“.
In britischen Medien waren das nach Beckers Angaben teils mehr als 50 Prozent der Kommentare, in französischen Medien teils sogar 60 Prozent und in Deutschland bis zu 25 Prozent. Einen solchen Paradigmenwechsel habe er nicht erlebt, seitdem es das interaktive Web gibt, sagte er. Später sei der Diskurs zu den üblichen Mustern der Dämonisierung Israels, NS- und Apartheid-Analogien sowie dem Genozidvorwurf zurückgekehrt.
Erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern
Das Forscherteam hat für den ganzen Untersuchungszeitraum erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern festgestellt. So sei in Großbritannien in den untersuchten Medien Antisemitismus von konservativ bis links am meisten verbreitet, gefolgt von Frankreich und Deutschland.
Für die Analyse der einzelnen User-Kommentare entwickelten die Forscherinnen und Forscher ein 160-Punkte-Kategoriensystem, um verwendete Codierungen und Schlüsselbegriffe in den Kommentaren aufzuspüren. Insgesamt erstellte das Team 27 Fallstudien nach verschiedenen Ereignissen. „Wir gehen davon aus, dass wir aber nur die Spitze des Eisbergs kennen“, sagte Becker. (epd/mig) Aktuell Panorama
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