Nebenan
Remigration.
Remigration zieht Hunderttausende Menschen auf die Straße. Sie demonstrieren für ein tolerantes Deutschland. Aber was bedeutet Toleranz überhaupt? Und: Was hat das „Rückführungsförderungsgesetz“ damit zu tun?
Von Sven Bensmann Montag, 22.01.2024, 9:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 22.01.2024, 5:42 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Remigration. Unter diesem frisch ernannten „Unwort des Jahres“ lassen sich auch die konspirativen Treffen subsumieren, in denen sich unter anderem Leute von Union und AfD, sowie bekannte Rechtsextreme zusammenfanden, um ihre Abschiebungsfantasien auszutauschen und die derzeit Zehntausende, teils Hunderttausende Menschen auf die Straße ziehen – so viele, dass mittlerweile einige dieser Demos aufgrund ihrer Größe abgebrochen werden müssen. Die Vorstellung, eine Partei mit derart abstrusen Vorstellungen von Volk und Nation könnte bald in Deutschland den Ton angeben, scheint viele Menschen so sehr zu schockieren, dass die nun teils zum allerersten Male in ihrem Leben die Ärsche hochbekommen, um gegen rechts zu protestieren.
Etwa gleichzeitig hat unsere ach so „linke“ Bundesregierung ein Gesetz durch den Bundestag gebracht, dass auf den schönen Namen „Rückführungsförderungsgesetz“ hört. Das Gesetz hat vor allem ein Ziel: Remigration. Dass dabei womöglich sogar Seenotrettung kriminalisiert werden könnte, dürfte in der AfD wohl niemand zu beanstanden haben, störte überraschenderweise aber auch kaum jemanden auf den Demonstrationen. Da sag noch einer, Demokratie funktioniere nicht.
Andererseits demonstrieren viele dieser Menschen ja für ein tolerantes Deutschland – und das ist letztlich auch nur ein völkisches Deutschland im freundlicheren Gewand.
„Die positive Verklärung von Toleranz dient der Legitimation dieser Ausgrenzung.“
Denn über eines darf man sich keine Illusionen machen: Toleranz ist ein zutiefst herabwürdigender, brutaler Akt. Toleranz wird gewährt, aus einer überlegenen Position heraus, als eine Form von Gnade: Wir tolerieren andere und deren Meinungen, deren Andersheit, in der Überzeugung, dass wir selbst im Recht sind und weil wir die Dummheit oder Falschheit des anderen schlicht hinnehmen. Wenn wir tolerieren, statt einander auf Augenhöhe zu begegnen, verweigern wir dem Gegenüber letztlich sogar die Möglichkeit, von der besseren Idee überzeugt zu werden oder uns davon zu überzeugen: Toleranz ist gelebte Ausgrenzung, sie schließt Liebe, Freundschaft, Akzeptanz, aber auch nur Konkurrenz aus. Die christlichen Kirchen tolerieren einander, weil sie aufgegeben haben, ihren Absolutheitsanspruch gegenüber dem anderen durchzusetzen; sie sagen damit auch: Ihr habt keine Chance auf Errettung, ihr Hunde müsst draußen bleiben. Und die positive Verklärung von Toleranz dient der Legitimation dieser Ausgrenzung.
„Toleranz ist … Leitkultur für Pädagogikstudent:Innen.“
Ein toleranter Staat ist kein linkes, emanzipatorisches Projekt, sondern dessen Pervertierung ins Gegenteil: Toleranz ist das, was den rechten Rand der Demokraten von den Verfassungsfeinden der AfD und der Werteunion unterscheidet, ist Leitkultur für Pädagogikstudent:Innen. Wenn Demokratie nicht in der Lage ist, mehr als nur Toleranz zu erreichen, widerstrebende Weltbilder gleichermaßen zu akzeptieren, wertzuschätzen und offene Feindschaft zwischen Weltbildern, Gruppen, Parteien zuzulassen, dann ist sie verloren. Dieser offene Widerstreit verlangt – natürlich – nach einem klaren Bekenntnis zu den Prinzipien dieser Demokratie, wie die unantastbare Würde aller Menschen, nicht nur aller Deutschen; er erlaubt aber auch, alle Mittel dieser Demokratie, wie ein Vereins- oder Parteiverbot gegen die, die das Fundament dieser Demokratie schleifen wollen, zu nutzen. Ein zivilisierter Streit unter – im ursprünglichen Sinne – Radikalen ist das fundamentale Grundprinzip aller Demokratie, Toleranz hat darin nichts zu suchen.
Wo kämen wir hin, wenn Olaf Scholz auf eine Generalabrechnung von Friedrich Merz erklärte, dass dies ein freies Land sei, in dem jeder das Recht auf seine eigene bescheuerte Meinung habe – um sich dann wieder der Tagesordnung zuzuwenden? Demokratie sieht anders aus.
„Wer Toleranz anbietet, sagt: ‚Deine Meinung interessiert mich eigentlich gar nicht‘, wo er das bessere Argument fürchtet.“
Wer Toleranz für sich einfordert, meint „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“, wo er Widerspruch fürchtet. Wer Toleranz anbietet, sagt: „Deine Meinung interessiert mich eigentlich gar nicht.“, wo er das bessere Argument fürchtet.
Wem nach Demokratie ist, der sucht den Streit mit dem Andersdenken, versucht, ihn zu überzeugen und lässt sich die Möglichkeit, selbst überzeugt zu werden; der ist bereit, für die Freiheit des Anderen, einem selbst zu widersprechen, zu kämpfen – mit derselben Inbrunst, wie dafür, den anderen vom eigenen Denken zu überzeugen.
Wie schön wäre es, wenn Leute dafür auf die Straße gingen, statt sich nur ihrer eigenen Richtigkeit zu versichern, und ihre Tolerierung der AfD aufkündigten. Angesichts der Neugründung der Werteunion als Partei, des Bündnis Sahra Wagenknecht und der zuvor schon komfortablen Situation der AfD bei den anstehenden Landtagswahlen bin ich aber geneigt, zu nehmen, was ich kriegen kann: Heute sind wir noch tolerant, morgen vielleicht ein wirklich demokratisches Land. Meinung
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