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Auswärtiges Amt, Bonn 1960: Unterzeichnung eines Vertrages über Gastarbeiter zwischen der Bundesrepublik und Spanien © Bundesarchiv, B 145 Bild-F008013-0006 / Unterberg, Rolf / CC-BY-SA 3.0 [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons

Forscherin

Migration lässt sich nicht auf- und zudrehen wie ein Wasserhahn

Als die Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren dringend benötigte Arbeitskräfte im Ausland anwarb, sollten sie nur „Gastarbeiter“ sein. Für Carmen Gonzalez und Apostolia Thomaidou war der Weg lang, bis sie in Deutschland heimisch geworden sind. Macht man heute die gleichen Fehler?

Von Montag, 04.12.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 04.12.2023, 10:22 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Carmen Gonzalez und Apostolia Thomaidou haben etwas gemeinsam: Beide kamen in den 60er Jahren mit einem Koffer nach Deutschland, um ein neues Leben zu beginnen. 1960 hatte die Bundesregierung ein Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte mit Spanien und Griechenland unterzeichnet. Carmen Gonzalez war 25 Jahre alt, als sie 1963 ihre spanische Heimat Murcia verließ und nach Deutschland reiste. In Spanien arbeitete sie oft jeden Tag bis spät in die Nacht bei der Tomaten- oder Paprikaernte. In Hamburg fand sie in einer erdbeerverarbeitenden Fabrik ihre erste Anstellung, später ging es mit einem Pappkoffer nach Troisdorf bei Bonn, wo sie in einer Zündhütchen-Fertigung und ihr Verlobter Juan im Eisenwalzwerk arbeitete.

Apostolia Thomaidou, genannt Liza, wuchs die ersten acht Jahre ihres Lebens bei ihren Großeltern in Griechenland auf. Ihre Eltern gingen anfangs davon aus, nur kurzfristig in Deutschland zu arbeiten, Geld zu sparen und dann in die Heimat zurückzukehren. Regelmäßig bekamen sie Fotos ihrer Tochter geschickt. Da Liza noch nicht stehen konnte, stellten die Großeltern sie vor einen Vorhang und stützten sie. „Es sind die traurigen Fotos“, sagt die heute 63-Jährige, während sie die Schwarz-Weiß-Aufnahmen betrachtet.

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Auf einer Aufnahme stehen sie und ihr drei Jahre jüngerer Bruder vor dem Rohbau eines Hauses, das ihre Eltern in Griechenland eigentlich ausbauen wollten. Diese griechischen Mauern sollten jedoch nie Lizas Zuhause werden. 1968 holen die Eltern die Kinder nach. Über 3.000 Kilometer ging es für die damals Achtjährige mit dem Zug in die Ferne. „Ich habe heute noch Gänsehaut, wenn ich an die Lichter am Rhein denke, die ich vom Zug aus sah und wusste, dass es nicht mehr weit ist“, erinnert sich Liza. Die erste Zeit im neuen Zuhause sei für sie schwierig gewesen. „Mir waren die eigenen Eltern fremd und ich verstand kein Deutsch“, erzählt sie.

Die rote Kolonie

Seit November 2023 treten Regelungen des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes sukzessive in Kraft, die es Fachkräften aus Ländern außerhalb der EU erleichtern sollen, in Deutschland zu arbeiten. Dazu zählen beispielsweise die Anerkennung von Berufserfahrungen auch ohne einen Hochschulabschluss. Als die Bundesregierung ab 1955 das erste Mal anfing, im Ausland um Arbeitskräfte zu werben, sollten die Menschen kurzzeitig den Arbeitskräftemangel ausgleichen und den Wirtschaftsaufschwung unterstützen. Doch viele der als „Gastarbeiter“ betitelten Eingereisten wie Carmen Gonzalez blieben in Deutschland. Ihre Geschichten zeigen, dass in einem anderen Land zu arbeiten auch immer dort zu leben bedeutet.

Carmen und Liza kamen beide in den 1970er Jahren an den Ort, der sie verbindet: die rote Kolonie in Troisdorf. Die Werkssiedlung wurde von Unternehmer Louis Mannstaedt bereits 1912 erbaut, um Facharbeiter aus dem nahen Köln unterzubringen. Damals lockte er die Arbeiter mit einem lebenswerten Wohnumfeld, kleinen Gärten zum Gemüseanbau, Lebensmittelläden und Kinderbetreuung. Die Kolonie sollte gleichzeitig die Arbeiter an das Werk binden.

Arbeitersiedlungen

Auch anderswo in Deutschland entstanden solche Arbeitersiedlungen als Gegenentwurf zu Massenunterkünften. Später fanden viele „Gastarbeiter“ in den Siedlungen ein günstiges Dach über dem Kopf. Da Lizas Vater bei Mannstaedt als Kranführer arbeitete, bekam die Familie eine Wohneinheit zur Miete zugesprochen.

„Wir haben mit den anderen Kindern verschiedenster Nationalitäten auf der Straße gespielt, Hüpfekästchen oder mit Murmeln“, erinnert sich die 63-Jährige an das internationale Flair der Siedlung. „Das war unsere Welt.“ Die „Klöckner-Mannstaedt-Werke“ verkauften schließlich Ende der 70er Jahre die Häuser der Kolonie. Lizas Eltern griffen zu. Auch Carmen Gonzalez und ihre inzwischen vierköpfige Familie kauften eine Haushälfte. Juan, dessen Familie in Spanien Landwirtschaft betrieben hatte, nutzte die Anbaumöglichkeiten der Gartenkolonie für Knoblauch, Bohnen oder Salat.

Migration ist kein Wasserhahn

Im Jahr 1970 lebten bereits 4.575 ausländische Arbeitnehmer – teils mit Familien – in Troisdorf. Fast jeder dritte Fabrikarbeiter war zugewandert. Wählen durften die neuen Bürger jedoch nicht. Damit sie sich politisch dennoch einbringen können, wurde 1972 in Troisdorf das erste Ausländerparlament in Deutschland gewählt – aufgrund des geringen Einflusses aber nach nur drei Jahren wieder eingestellt.

Die Sozialwissenschaftlerin Vera Hanewinkel vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück sieht in der gesellschaftlichen Teilhabe einen wichtigen Schlüsselfaktor für die Integration von Facharbeitern – auch heute: „Wenn wir heute Arbeitskräfte aus dem Ausland anwerben, dann sollten wir nicht wieder den Fehler begehen, zu denken, Migration ließe sich auf- und zudrehen wie ein Wasserhahn.“

Einbürgerung verbessert Integration

Es sei ein Schritt in die richtige Richtung, wenn die Hürden für eine Einbürgerung und den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit gesenkt würden und damit volle politische Mitsprache ermöglicht werde. „Studien haben gezeigt, dass eine schnelle Einbürgerung Integrationsmöglichkeiten verbessert. Somit bleiben die Neuzuwandernden hoffentlich nicht so lange von zentralen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen wie die ‚Gastarbeiterinnen‘ und ‚Gastarbeiter‘ der 1960er Jahre.“

In der roten Kolonie in Troisdorf leben heute Carmens Söhne und deren Familien nur wenige Meter von Liza und ihrem Mann entfernt. Oft trifft man sich in den Gärten der Kolonie, tauscht selbst angebautes Obst und Gemüse aus, während die Enkel auf der Straße spielen. War es früher die Gemeinschaft der Fabrikarbeiter, die in der Werkssiedlung schnell für Verbundenheit sorgte, so ist es heute die gemeinsame Geschichte vom Neuanfang in der Ferne. „Wenn ich durch Torbogen in die rote Kolonie komme“, sagt Liza, „dann bin ich zu Hause.“ (epd/mig) Aktuell Gesellschaft

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