Buchtipp zum Wochenende

Generation Koffer. Die Pendelkinder der Türkei

Von den Eltern verlassen, bei Verwandten aufgewachsen das Schicksal von „Gastarbeiter“-Kindern türkischer Herkunft ist im Bewusstsein der Deutschen bisher nicht vorhanden. Gülcin Wilhelm hat ein Buch über ein türkisches Tabu geschrieben.

Von Dienstag, 30.04.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.08.2016, 10:44 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

In der Ära der Anwerbung ging es nur um die Arbeitskraft. Das erste Abkommen mit der Türkei kam 1961 ohne Berücksichtigung der Kinderfrage zustande. In der deutschen Administration ersetzte man „Fremd“ mit „Gast“, um die Arbeiter dann wieder fast genauso unterzubringen wie gehabt: das heißt konzentriert in Baracken.

Die Perspektiven koinzidierten: alle gingen von kurzer Dauer der Arrangements aus. Kinder wurden bei den Großeltern „geparkt“. Vor Gülcin Wilhelms Untersuchung war das ein ausgespartes Thema. Mitunter hielten die Zurückgelassenen die Großeltern für ihre Eltern. Wenn sie dann nach Deutschland verbracht wurden – in der Konsequenz mutierter Lebensplanungen – kollabierte ihre stärkste Bindung unbesprochen. Nun konnten die gesetzlichen Eltern schlecht erklären, warum sie den nachkommenden Nachwuchs erst einmal ausgeschlossen hatten.

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„Das zurückgelassene Kind entwickelt Schuldgefühle“, erklärt Gülcin Wilhelm. Es vermutet Gründe für die Isolation in der eigenen Unzulänglichkeit. „Aus dem Muster der Selbstverurteilung rührt der Drang, sich extra zu beweisen“, in der vergeblichen Hoffnung auf immediate-return. Gülcin Wilhelm findet dafür das Bild: „Du wirfst einen Stein nach dem anderen in einen bodenlosen Brunnen“.

Trainingssache Mutterliebe
„Es gibt keinen Mutterinstinkt“, sagt Gülcin Wilhelm. Auch Mutterliebe ist Trainingssache. Da gerieten in vielen Konstellationen Fremde aneinander und sollten sich doch als Familie verstehen. Wie darüber reden? Dieser Frage ist Gülcin Wilhelm nachgegangen. Sie führt in einen Abgrund, der sich auftut, wenn man feststellen muss, dass man die lieblose Mutter nicht liebt. Zum Beispiel ergeben sich so, sagt Gülcin Wilhelm, „Verlustängste in den erwachsenen Partnerschaften“.

Die Väter der Kofferkinder glänzen in pädagogischer Abwesenheit. Über sie muss noch geschrieben werden.

Zu den von Gülcin Wilhelm Befragten gehört D., Erzieherin, 41
Im Jahr der Revolte geht der Vater nach Deutschland. Die Mutter folgt, da ist D. zwei Monate alt. Sie verwechselt ihre Großeltern mit den Eltern, es haben schließlich alle Eltern. Ein naheliegender Trugschluss. Mit fünf wird D. nach Deutschland geschickt, sie fühlt sich zumal von der Großmutter im Stich gelassen.

„Was hatte ich mit diesen Fremden zu tun, die behaupteten, meine Eltern und Geschwister zu sein?“
Auch die Mutter verzichtet auf eine Annäherung. D.´s Resümee ist indes positiv: „Mich hat der Mangel selbstbewusst gemacht. Ich brauche nicht um jeden Preis einen Mann“.

E., Taxifahrer, 38
Sehnsucht nach der Oma in der Aura einer gefühlskalten Mutter. Die Rede ist von einem „offiziellen Mutter-Kind-Verhältnis“. E. wird ohne Deutschkenntnisse in B.-Wilmersdorf eingeschult. Sprachförderung findet nicht statt. Eine Clique der Ausgegrenzten dient dem Familienersatz.

Der Mangel an Verbundenheit wird von Müttern oft theatralisch überspielt. Allein ihre Überforderung steht außer Frage … in der Migration bieten die Traditionslinien der Herkunft keine sicheren Orientierungen mehr. Übrigens spielt der „Kofferkinder“-Titel an auf jene jüdischen „Kofferkinder“, die in einer kurzen Spanne nach den Novemberpogromen von 1938 in England willkommen waren. Von denen kehrte kaum eines in das Land der toten Eltern zurück. Rezension

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