Schwarz-Rot statt Schwarz-Grün
Hessens neue politische Farben – auch in der Flüchtlingspolitik
Die CDU will in Hessen nach zehn Jahren Schwarz-Grün ihren Regierungspartner wechseln. Zu den Topthemen gehören Flüchtlinge und innere Sicherheit. Die Grünen zeigen sich enttäuscht. Im Netz gibt es Kritik wegen Hanau und der Flüchtlingspolitik.
Von Jens Albes und Andrea Löbbecke Sonntag, 12.11.2023, 18:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 12.11.2023, 15:00 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Hessen steht vor einem Regierungswechsel. Deutschlands erstes schwarz-grün regiertes Flächenland soll ein schwarz-rotes Kabinett bekommen. Fast fünf Wochen nach der Landtagswahl hat sich die klare Siegerin CDU am Freitag entschieden, mit der SPD Koalitionsverhandlungen zu beginnen.
Bislang regiert die CDU in Hessen seit rund einem Jahrzehnt mit den Grünen zusammen, meist recht geräuschlos. Die SPD drückt dagegen schon seit etwa einem Vierteljahrhundert die Oppositionsbank. Mit ihrer Spitzenkandidatin, Bundesinnenministerin Nancy Faeser, hatte sie bei der Wahl im Oktober im Vergleich zur Abstimmung vor fünf Jahren deutlich an Zustimmung verloren.
CDU will „Vernunft im Umgang mit Migration“
Nun bekommt die Sozialdemokratie Auftrieb. Rhein sagte: „Wir wollen als CDU den Versuch unternehmen, in Hessen eine Regierung mit der SPD, mit den Sozialdemokraten, zu bilden und zum ersten Mal seit 70 Jahren in einer christlich-sozialen Koalition zusammenarbeiten.“ Man wolle mit der SPD ein Programm schreiben, das Vernunft und Fortschritt miteinander verbinde. „Ein Programm für Vernunft im Umgang mit der Migration. Besonnen, nie mit Schaum vorm Mund.“
Die Entscheidung für die SPD begründete er mit größeren Schnittmengen. Rhein verwies auf die aktuell vielen Krisen. „Heute stehen Themen im Fokus, wo wir eine Koalition aus der Mitte heraus bilden müssen.“ Die Grünen seien in den Sondierungen weit auf die CDU zugegangen. „Aber am Ende hat es nicht gereicht“, erklärte Rhein. Und gab dann ein ungewöhnliches Bekenntnis ab: Die Absage an die Grünen sei eine „emotional wirklich schwierige Entscheidung“ gewesen.
Grüne über Schwarz-Rot: Nicht nachvollziehbar
Für die Grünen ist die Entscheidung bitter. „Nicht nachvollziehbar“, schrieb Parteichef Omid Nouripour, selbst mit Frankfurter Wahlkreis und stolzer Eintracht-Fan, auf X (vormals Twitter). Die Beteiligung an Landesregierungen in Schleswig-Holstein oder Nordrhein-Westfalen ist für die Grünen stets ein Beleg ihrer politischen Verlässlichkeit und Koalitionsfähigkeit – auch mit der CDU.
Das erklärt die Unruhe, die der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz – selbst in einer Regierung mit der CDU – erkennen ließ: „Wir Grüne müssen uns schon auch selbstkritisch fragen, warum uns einstige Koalitionspartner nicht mehr als moderne Kraft der Veränderung, sondern offenbar mehr als eine Art Belastung in schwierigen Zeiten wahrnehmen“, schrieb er auf X.
Grüne Enttäuschung
In sozialen Netzwerken müssen die Grünen auch viel Kritik aus der migrantischen Community einstecken. Die Grünen hatten bei der Aufarbeitung der des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau die Erwartungen nicht erfüllt. Im Gegenteil: Betroffene und Hinterbliebene zeigten sich öffentlich mehrmals sichtlich enttäuscht vom mangelnden Engagement bei der Aufklärung. Auch bei der Einhaltung von Menschenrechten in der Flüchtlingspolitik hätten die Grünen nicht überzeugt, heißt es im Netz.
Könnte die hessische Annäherung von CDU und SPD damit auch auf eine veränderte Stimmung in der Bundespolitik hindeuten? In Berlin galt eine Neuauflage der GroKo rund um die vergangene Bundestagswahl quasi als größtmögliches Übel. Doch inzwischen sind die Karten neu gemischt – und die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP mussten erkennen, wie schwierig das Regieren in einer Dreierkoalition so unterschiedlicher Partner ist. Faeser beschwichtigte allerdings direkt, man dürfte die Entwicklung in Hessen nicht überinterpretieren. „Es ist ein Angebot, Koalitionsverhandlungen zu führen in einem Bundesland. Und das sagt auch alles darüber aus, was ich an Wertigkeit für andere Dinge dazu zu sagen habe.“
Die hessische CDU will am Dienstag die Koalitionsgespräche beginnen. Der Koalitionsvertrag soll „noch vor Weihnachten“ ausgehandelt sein. Am 18. Januar 2024 konstituiert sich der neue Landtag in Wiesbaden.
Faeser bleibt in Berlin
Faeser will nicht Teil der neuen Landesregierung werden. „Ich bleibe Bundesinnenministerin“, kündigte sie in Berlin an. Sie habe in der Bundesregierung eine wichtige Aufgabe.
Am Freitagabend beschlossen Parteirat und Landesvorstand der SPD in Kassel einstimmig die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der CDU, wie ein SPD-Sprecher der Deutschen Presse-Agentur mitteilte. Faeser habe Rhein telefonisch darüber informiert. Bei den Koalitionsgesprächen soll es eine Hauptverhandlungsgruppe mit den Partei- und Fraktionschefs sowie Generalsekretären von CDU und SPD geben. Hinzu kommen 14 Arbeitsgruppen zu einzelnen Themenbereichen mit jeweils sechs Vertretern beider Parteien.
Begrenzung von „irregulärer Migration“
Als Ergebnisse ihrer bisherigen Sondierungen mit der SPD nannte die CDU das Bekenntnis zur Begrenzung der sogenannten „irregulären Migration“ – gemeint sind Geflüchtete, die mangels legaler Fluchtwege ohne gültige Einreisedokumente Grenzen passieren – mit einer Rückführungsoffensive und der Einrichtung von Rückführungszentren, ein Sicherheitspaket mit mehr Polizisten und mehr Videoüberwachung sowie einer Initiative zur Speicherung von IP-Adressen, um Kinderpornografie im Netz zu bekämpfen. Beide Parteien wollen auch mit einem „Hessengeld“ den Kauf eines ersten Eigenheims vor allem für Familien fördern sowie den Klimaschutz verbessern, etwa mit einem 100.000-Dächer-Programm bei der Photovoltaik. Außerdem soll ein eigenes Ministerium für Land- und Forstwirtschaft sowie Weinbau, Jagd und Heimat entstehen.
Rhein dankte den Grünen für die bisherige Zusammenarbeit. „Wir haben zehn gute Jahre hinter uns.“ Die Grünen zeigten sich sehr enttäuscht. Die Absage der CDU sei „völlig unverständlich“, erklärte der Grünen-Fraktionsvorsitzende Mathias Wagner. Schwarz-Grün habe zehn Jahre lang „erfolgreich, verlässlich und vertrauensvoll“ Hessen regiert, es habe auch keine Wechselstimmung gegeben. Nouripour urteilte, dass jede Krise in Deutschland „so durchschlägt“, liege auch an der Politik der großen Koalitionen der vergangenen Jahre. Hessen habe eine bessere Regierung verdient als eine kraftlose große Koalition.
Wahlsieger CDU kann sich Partner aussuchen
Rhein hatte schon vor der Wahl auch mit den Sozialdemokraten öffentlich geliebäugelt. Er hatte unter anderem „ähnliche Erfahrungswelten als Volkspartei“ betont.
Die CDU konnte sich als deutliche Wahlsiegerin aussuchen, ob sie erneut mit den Grünen oder mit der SPD ein Regierungsbündnis schmiedet.
Grüne, Sozialdemokraten und Liberale hatten am 8. Oktober in Hessen allesamt Stimmen verloren im Vergleich zur Landtagswahl 2018. Mit der deutlich erstarkten AfD schließt die CDU eine Zusammenarbeit aus. Die Rechtspopulisten sind künftig die größte Opposition im Wiesbadener Landtag – der Umgang mit ihr dürfte eine Herausforderung für ein künftiges schwarz-rotes Bündnis werden. (dpa/mig) Aktuell Politik
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