Hintergrund
Warum gibt es den Nahost-Konflikt?
Kaum ein Konflikt ist schwerer zu durchschauen als der zwischen Israelis und Palästinensern. Er begann vor über 100 Jahren mit zwei Nationalbewegungen, die dasselbe Stückchen Erde beanspruchten.
Von Christoph Driessen Sonntag, 05.11.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.11.2023, 13:46 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
1952 erhielt Albert Einstein das Angebot, Präsident des Staates Israel zu werden. Der berühmteste Jude der Moderne sagte sofort Nein. Zwar war der vor den Nazis in die USA geflohene Physiker ein entschiedener Unterstützer des israelischen Staates, doch zugleich blieb es seine Überzeugung, dass Israelis und Palästinenser nur gemeinsam glücklich werden konnten: „Ohne Verständigung und Zusammenarbeit mit den Arabern wird es nicht gehen.“ Das aber, so befürchtete er, würde auch er nicht bewerkstelligen können.
Der Nahost-Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern gilt als eine der langwierigsten und kompliziertesten Auseinandersetzungen der Welt. Um ihn zu verstehen, müsse man bis vor den Ersten Weltkrieg zurückgehen, bis zur Zeit der Gründung der zionistischen Bewegung, erläutert der israelische Historiker Moshe Zimmermann. Für die Zionisten bildeten die Juden nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern eine Nation.
Dieses Denken lag ganz im Trend der damaligen Zeit, der Hochphase des Nationalismus. Es war aber auch eine Reaktion auf jahrhundertelange Verfolgung und Pogrome. Sehnsuchtsort der Zionisten war Palästina, Heimat des biblischen Volkes Israel bis zur Vertreibung durch die Römer im Jahr 70 nach Christus. Auch danach lebten in der Region immer auch Juden, die Mehrheit der Bevölkerung war aber arabisch. Während nun ab Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Juden nach Palästina emigrierten, bildete sich parallel dazu ein arabischer und später palästinensischer Nationalismus heraus.
„Nur vor dem Hintergrund dieser beiden nationalistischen Bewegungen kann man überhaupt von einem Konflikt sprechen“, betont der Politikwissenschaftler und Buchautor Jan Busse von der Universität der Bundeswehr München. „Die beiden Gruppen haben vorher jahrhundertelang im Osmanischen Reich, einem multiethnischen Imperium, friedlich zusammengelebt. Es wäre fatal zu behaupten, dass es ein Jahrtausende alter Konflikt ist. Es ist ein moderner Konflikt, der zwischen zwei Gruppen stattfindet, die beide einen unabhängigen Staat gründen wollen und dies ungünstigerweise auf demselben Territorium.“
Die Gründung Israels
Nach dem Ersten Weltkrieg fiel Palästina Großbritannien zu. Schon 1917 hatte sich die Regierung in London dazu bekannt, in Palästina eine „nationale Heimstätte“ für die Juden zu schaffen. Während des Krieges hatten die Briten allerdings auch den Arabern Versprechungen gemacht, um sie zu einem Aufstand gegen das Osmanische Reich – einen Verbündeten der Deutschen – zu ermutigen.
Die Briten hätten nun zunächst darauf gesetzt, beide Nationalbewegungen in einem Staat unter ihrer Führung unterzubringen, erläutert Peter Lintl, Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Als sich das wegen zunehmender Gewalt als unrealistisch herausgestellt habe, habe London auf eine Zwei-Staaten-Lösung gesetzt.
Die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden durch die Nazis verstärkte insbesondere in den westlichen Demokratien die Überzeugung, dass die Juden ein Recht auf einen Schutzraum hatten – einen eigenen Staat. 1947 legte die UN-Vollversammlung fest, dass Palästina aufgeteilt werden sollte: in Israel für die Juden und Palästina für die Araber. Daraufhin gründeten die Juden 1948 den Staat Israel. Die arabische Seite lehnte den Teilungsplan ab.
Der Sechs-Tage-Krieg
Diese Entscheidung wird den Palästinensern bis heute vorgehalten. Busse gibt zu bedenken: „Der UN-Teilungsplan sprach einem jüdischen Staat 56 Prozent des Mandatsgebiets zu, obwohl die jüdische Bevölkerung nur 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Von daher erscheint er aus arabischer Perspektive tatsächlich unausgewogen.“
Am Tag nach der Gründung Israels erklärten die Nachbarn Ägypten, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien dem jungen Staat den Krieg – doch sie verloren. Israel eroberte drei Viertel des ehemaligen Britisch-Palästina. Die Araber hielten nur noch den Gazastreifen, das Westjordanland und Ost-Jerusalem. In eben diese Gebiete und in andere arabische Staaten floh daraufhin mehr als die Hälfte der arabischen Bevölkerung aus den von Israel eroberten Gebieten, etwa 700 000 Menschen. Ein Teil von ihnen wurde auch dorthin vertrieben, wie neuere Archivuntersuchungen israelischer Historiker gezeigt haben.
Das erklärte Ziel der Nachbarn Ägypten, Syrien und Jordanien blieb auch danach die Vernichtung Israels. Doch im Sechs-Tage-Krieg von 1967 errang die kleine Republik einen weiteren spektakulären Sieg und eroberte nun auch das Westjordanland, den Gazastreifen und ganz Jerusalem. Damit kamen die Gebiete, in denen ein Großteil der palästinensischen Flüchtlinge lebte, unter israelische Kontrolle. Von nun an ließen sich israelische Siedler in den Territorien nieder, die den Palästinensern geblieben waren. Palästinensische Gruppen versuchten, Israel mit Terroranschlägen wie dem Münchner Olympia-Attentat von 1972 unter Druck zu setzen.
Der Osloer Friedensvertrag
Eine friedliche Lösung rückte erst in dem Moment in den Bereich des Möglichen, in dem die arabisch-palästinensische Seite das Existenzrecht Israels anerkannte. Als sich eine solche veränderte Haltung Ende der 1980er Jahre in Teilen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) durchzusetzen begann, vermittelten die USA Friedensgespräche. Es war wie ein Wunder, als der israelische Ministerpräsident Izchak Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat 1993 den Osloer Friedensvertrag schlossen und sich vor dem Weißen Haus in Washington die Hand reichten. Moshe Zimmermann (79) erinnert sich: „Ich persönlich kann sagen, diese Aufbruchsstimmung war damals sowohl auf israelischer wie auf palästinensischer Seite spürbar.“
Warum aber kam es dann doch nicht zu einer Zwei-Staaten-Lösung? Fest steht, dass es auf beiden Seiten dezidierte Gegner des Friedensprozesses gab und gibt. „Die Hamas, aber auch andere palästinensische Gruppen, haben den Friedensprozess durch Selbstmordattentate auf die israelische Zivilbevölkerung sabotiert“, sagt Busse. „Auf israelischer Seite hat sich die Zahl der Siedler im Westjordanland zwischen 1993 und 2000 nahezu verdoppelt – das war natürlich auch keine vertrauensbildende Maßnahme.“ Ein schwerer Rückschlag war die Ermordung Rabins durch einen jüdischen Fanatiker 1995.
Als einen Konstruktionsfehler des Oslo-Friedensprozesses sieht Busse zudem, dass zentrale Streitfragen – der Status von Jerusalem, die Siedlungen, die Flüchtlinge und insbesondere die Gebietsfrage – ausgespart wurden. Sie sollten in den fünf Folgejahren gelöst werden – das aber gelang nicht. „Da hätte es eine intensivere internationale Einmischung mit klaren Vorgaben geben müssen“, meint Busse.
Zwei-Staaten-Lösung?
Inzwischen ist das Vertrauen in die jeweils andere Seite kollabiert. „Die Zustimmung für eine Zwei-Staaten-Lösung liegt derzeit auf beiden Seiten nur noch bei höchstens einem Drittel“, sagt Politikwissenschaftler Lintl. „Gleichzeitig erhalten die Maximalpositionen auf beiden Seiten immer mehr Unterstützung. Auf palästinensischer Seite heißt es jetzt vielfach ‚From the river to the sea‘, was soviel bedeutet wie ‚Alles Land für die Palästinenser‘. Und auf israelischer Seite ist es so, dass der erste Satz des Koalitionsvertrags der derzeitigen Regierung lautet, dass nur Israel ein legitimes Recht auf das Westjordanland hat. Das heißt, es werden keine nationalen Rechte mehr für die Palästinenser vorgesehen.“
Busse plädiert deshalb dafür, sich nicht auf die Zwei-Staaten-Lösung zu fixieren, sondern auch über Alternativmodelle zu diskutieren. „Vielleicht ein binationaler Staat mit gleichen Rechten für alle. Oder ein Konföderationsmodell. Das erscheint im Moment natürlich auch unrealistisch. Aber ich glaube, es wäre sinnvoll, das stärker in die Debatte einzuführen.“
Schon Einstein hatte seinerzeit die Hoffnung gehegt, dass der junge israelische Staat völlig neue politische Wege gehen würde: „Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben“, sagte er. Aber da sprach eben ganz der rationale Wissenschaftler. (dpa/mig) Ausland Leitartikel
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