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Blick auf Bremen © de.depositphotos.com

„Das war eine Beutegemeinschaft“

„Arisierungs“-Mahnmal erinnert an die totale Ausplünderung der Juden

Das NS-Regime hat Juden systematisch und massenhaft ausgeplündert. Auch Unternehmen, Behörden und Bürger waren daran beteiligt. Ein Mahnmal in Bremen erinnert jetzt daran. Initiiert hat es Henning Bleyl. Im Gespräch erklärt er, was damals geschehen ist.

Von Sonntag, 10.09.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 10.09.2023, 15:06 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Im Beisein von Vertretern der Jüdischen Gemeinde wird an diesem Sonntag in Bremen an den Weser-Arkaden nahe der Altstadt ein sogenanntes „Arisierungs“-Mahnmal eingeweiht. Es erinnert an die systematische und massenhafte Ausplünderung der Juden durch das NS-Regime. Initiator des für rund 550.000 Euro errichteten Bauwerks ist der Bremer Journalist und Kulturwissenschaftler Henning Bleyl, der künstlerische Entwurf stammt von Evin Oettingshausen. Im Gespräch erläutert Bleyl die Hintergründe für das in Deutschland bislang einzigartige Mahnmal.

Herr Bleyl, in Bremen wurde das sogenannte „Arisierungs“-Mahnmal eingeweiht, das auf Ihre Initiative zurückgeht. Worum geht es da?

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Henning Bleyl: Es erinnert an die „massenhafte Beraubung europäischer Jüdinnen und Juden durch das NS-Regime und die Beteiligung von Unternehmen, Behörden, auch von Bürgerinnen und Bürgern“ – so ist der offizielle, allerdings recht sperrige Titel des Bauvorhabens. Um es deutlicher auszudrücken: Fast 80 Jahre nach dem Holocaust gibt es immer noch große Mengen an jüdischem Besitz in deutschen nichtjüdischen Häusern – und die wenigsten Familien haben sich damit auseinandergesetzt. Bremen als Hafen- und Logistikstadt hatte einen besonderen Anteil an der „Verwertung“ des beweglichen Hab und Guts der jüdischen Bevölkerung, die dem Massenmord vorausging.

Wie wurde diese Ausplünderung organisiert?

Bleyl: Das lief flächendeckend, nicht nur in Deutschland in jeder Ortschaft und in jedem Gemeinwesen, sondern in allen Ländern, die die Wehrmacht besetzt hatte. Möglichst viel von den Möbeln und dem Hausrat der jüdischen Bevölkerung, die entweder geflohen war, ausgewandert ist oder deportiert wurde, sollte nach Deutschland geschafft werden – vom Wohnzimmerschrank über den Putzeimer bis zum Einmachglas. Dann gab es Auktionen oder Massenverkäufe, um die Sachen günstig an die „Volksgemeinschaft“ abzugeben. Das galt im NS-Jargon als „siegwichtig“, denn im Reich waren ja mittlerweile viele Leute ausgebombt. So sollten die Moral und die Zustimmung zum Regime unterstützt werden. Auch Institutionen wie die Bremer Staatsbibliothek haben profitiert. Ein Beispiel: 40 Prozent ihrer Bücher-Neuzugänge im Jahr 1942 stammten aus den Umzugskisten jüdischer Familien. Bei dieser Ausplünderung haben Spediteure wie Kühne & Nagel mit ihrer Firmenzentrale in Bremen als Dienstleister eine zentrale Rolle gespielt.

Warum?

Henning Bleyl: Kühne & Nagel hatte fast ein Monopol darauf, die Streckentransporte zu machen aus Paris, aus Amsterdam, aus Belgien, aus anderen europäischen Ländern. Das war ein Riesengeschäft. Das Unternehmen hat reihenweise Niederlassungen gegründet im besetzten Ausland, immer in den Fußstapfen der Wehrmacht. Das waren die logistischen Knotenpunkte für die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung, die von der Wehrmacht und den Sicherheitsdiensten organisiert wurde. Diese „Arisierung“ war außerdem ein wichtiger Herrschaftsfaktor: Die deutsche Bevölkerung wurde an den Profiten beteiligt. Das war eine Beutegemeinschaft. Und das hieß ja auch: Wenn du das jüdische Eigentum deiner Nachbarin, deiner Nachbarn an dich nimmst, dann gehst du auch sicher davon aus, dass die nicht zurückkommen. Und du willst auch nicht, dass sie zurückkommen, dass Spuren übrig bleiben. Deshalb spricht man von einer Totalität der Verwertung.

Wie ist mit dem Thema bisher umgegangen worden?

Henning Bleyl: So etwas wie das Bremer Mahnmal gibt es nach Informationen des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München bisher an keiner anderen Stelle in Deutschland. Insofern füllt das Bauwerk eine Leerstelle in der Erinnerungslandschaft. Und zugleich hat sich doch in den Jahren, in denen wir uns hier in Bremen damit beschäftigen, einiges verändert. Es gibt Forschungsprojekte in mehreren europäischen Hafenstädten, es gibt die Provenienzforschung. Und die Geschichtswissenschaft untersucht zunehmend die Funktion der Herrschaftssicherung durch Beuteteilung, das Dritte Reich als „Beutegemeinschaft“.

Gab es für Sie einen Anlass, sich dem Thema als Journalist und Kulturwissenschaftler zuzuwenden?

Henning Bleyl: Unser regionaler Anlass hier in Bremen war 2015 das Firmenjubiläum von Kühne & Nagel, bei dem die Beteiligung an der „Arisierung“ überhaupt keine Rolle gespielt hat. Und das, obwohl das Unternehmen in einer Dimension von mehreren Hundert Frachtschiffen und Tausenden Zugwaggons das Eigentum der jüdischen Bevölkerung zur Verwertung gebracht hat. Die Konzernkommunikation antwortete auf meine Nachfragen wörtlich, diese Zeitperiode habe „keine Relevanz für die Firmengeschichte“. Das hat mich getriggert. Dann kam irgendwann die Idee zu einem Mahnmal, die beim Crowdfunding im Netz total viral ging und schnell 27.000 Euro Spenden einbrachte.

Wie war das mit Politik und Stadt?

Henning Bleyl: Über die Debatte, wo ein solches Mahnmal errichtet werden könnte und einem damit zusammenhängenden Grundstückskauf kam das Thema dann auch dort an. Der Bau schließlich basiert auf einem im November 2016 fraktionsübergreifend gefassten Beschluss der Bremischen Bürgerschaft. Die Ergebnisse eines Ideenwettbewerbes wurden in der Bürgerschaft vorgestellt, der Entwurf von Evin Oettingshausen ist jetzt umgesetzt.

Jetzt steht das Mahnmal, nach langer Diskussions-, Konzeptions- und Bauphase. Wie geht es weiter?

Henning Bleyl: Was sehr gut funktioniert, sind erinnerungspolitische Radtouren, mit denen wir schon angefangen haben. Sie verbinden das Mahnmal mit anderen Orten in Bremen wie dem Finanzamt als staatlichem Ort der Beraubung oder dem Weser-Stadion, wo jüdisches Eigentum in großer Menge verkauft wurde. Bei diesen Touren fragen wir die Teilnehmenden auch, wie wir, privat und öffentlich, mit dem NS-Unrechtserbe umgehen wollen. Schülerwettbewerbe wären auch eine Idee. Stadtführungen sollten das Mahnmal aufnehmen, im erinnerungspolitischen Konzept der Stadt braucht es einen Raum. Und demnächst bekommt es noch eine erklärende Texttafel mit QR-Code, der auf eine Website mit zusätzlichem Material führt. Auf jeden Fall ist das Mahnmal kein Schlusspunkt in der Debatte zum Thema, sondern ein Doppelpunkt. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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