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MiGAZIN Kolumnist Sven Bensmann © privat, Zeichnung MiG

Nebenan

Jenseits von Gut und Böse

Ich habe Fragen: Warum setzen wir Himmel und Hölle in Bewegung, um fünf Millionäre zu retten, setzen aber die Seenotrettung im Mittelmeer faktisch außer Kraft? Worum geht's?

Von Montag, 26.06.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 26.06.2023, 7:19 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Die letzte Woche hat Fragen demokratietheoretischer Art aufgeworfen. Demokratietheoretisch nur deshalb, weil sich die aufgeworfenen Fragen moralisch innerhalb von kaum zwei Sätzen klären ließen. Und auch, wenn sich der ein oder andere Journalist bereits kritisch geäußert hat, wurden viele wichtige Fragen noch nicht wirklich thematisiert, viele andere haben sie jenseits eines Spektakelcharakters gleich komplett ignoriert. Die zwei wichtigsten Fragen sind meines Erachtens erstens eine in erster Linie US-amerikanische und zweitens eine stärker EU-europäische:

1. Warum schicken die USA gefühlt ihre halbe Atlantikflotte zu einem Wrack in der Mitte des Ozeans (zuzüglich Spezialschiffen auch aus Kanada und Frankreich, sowie Schiffen der kanadischen Küstenwache), wenn eine handvoll rich dudes mit einer selbstgebauten Nussschale absaufen, hat aber nur „thoughts and prayers“ für diejenigen Kinder übrig, die teils zu Dutzenden und beinahe jeden Tag in ihren Schulen abgeknallt werden, so häufig jedenfalls, dass man diese Kinder zusätzlich mit geplanten und mit Überraschungsdrills traumatisieren muss?

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2. Wenn wir uns darauf geeinigt haben, dass alle Menschen gleich an Würde sind, wenn wir uns auf allgemeine, unveräußerliche Menschenrechte geeinigt haben – die vereinzelt sogar bereits Affen zugestanden werden – warum setzen wir zwar Himmel und Hölle in Bewegung, um fünf Millionäre zu retten, setzen aber die Seenotrettung im Mittelmeer faktisch außer Kraft, um bloß niemanden zu retten, der in einem Schlauchboot unterwegs ist?

Wie gesagt, die moralische Antwort ist einfach: Beides ist nur widerlich, amoralisch, ein Widerspruch zur Charta der UN, steht in krassem Kontrast zum deutschen Grundgesetz und verdient jedem der Verantwortlichen einen Platz in Den Haag. Punkt. Mehr wäre dazu eigentlich nicht zu sagen.

Die demokratietheoretische Antwort, die realpolitische Analyse, ist etwas komplexer.

Zur ersten Frage, wo sich einige die Antwort mittlerweile sehr einfach machen: Warum sind die Amerikaner so dumm? Antwort: Weil alle, die zur Schule gegangen sind, erschossen wurden.

In den USA haben nur ungeborene Babys und Millionäre ein Recht auf Leben, alle anderen sind der herrschenden Elite herzlich egal. Fuck them, wie der Orangene sagen würde. Ob man ein Kind wohl abtreiben dürfte, wenn man sicher wäre, dass es einmal Abtreibungsärzt:in würde? Wer weiß, vermutlich aber eher, als das Ergebnis der Vergewaltigung einer 12jährigen.

So sind eben die Mechanismen eines durch Populismus getragenen neofeudalen Kapitalismus im Endstadium. Der Geldbeutel und die Hautfarbe bestimmen den Wert einer Person; und ein echter US-Amerikaner akzeptiert eher Hochverrat durch einen elitären Weißen, als eine allgemeine Gesundheitsversorgung durch einen weniger reichen Schwarzen.

„Es ist allerdings offensichtlich, dass Leben und Meinung von Millionären und Milliardären deutlich mehr zählen, als die Normalsterblicher, und umso mehr als die von Nicht-Weißen Menschen, die womöglich ja nicht einmal einen EU-europäischen Pass besitzen.“

Allerdings muss sich so ein strammer fiscal conservative (etwa: „Haushaltspolitisch Konservativer“) auch fragen lassen, ob es denn wirklich richtig sein kann, eine so breite Rettungsaktion für eine Handvoll Menschen zu starten, selbst wenn es sich dabei um Leistungsträger handelt. Nicht umsonst wird seit Jahren über die tragischen Pull-Effekte von Seenotrettung gesprochen. Motiviert man durch die versuchte Rettung nicht am Ende nur andere Millionäre dazu, auch die gefährliche Fahrt mit einem minderwertigen U-Boot zu einem alten Schiffswrack zu unternehmen? Wir können ja nicht alle retten…

Auch die Frage, ob sich die Sicherheit an amerikanischen Schulen, für die dort unverschuldet in Not geratenen Schüler:innen, erhöhen ließe, indem für hunderttausende Dollar Expeditionen dorthin erfolgten, in denen die privilegierte Oberschicht mal die Zustände der durch ihre Steuervermeidung heruntergekommen Schulen kennen lernen könnte, müsste endlich einmal beantwortet werden.

Schlussendlich bliebe dann schließlich noch zu klären, ob vielleicht gar einer der Passagiere eine Waffe samt Munition mit an Bord des Bootes genommen hatte, wie es sein gottgebebenes Recht ist, und ob diese Tragödie am Ende durch einen Schuss, der sich willentlich oder unwillentlich gelöst hatte, ausgelöst wurde.

Und damit kommen wir zur zweiten wichtigen Frage:

Wie wollen wir damit umgehen, dass unser kapitalistisches Wirtschaftssystem eine utilitaristische Verwertungslogik von Menschen in unsere demokratische Grundordnung gezwungen hat, dass die damalige Kanzlerin Merkel sich schlussendlich verplapperte und forderte, dass unsere Demokratie in allererster Linie marktkonform, und nicht etwa demokratiekonform oder gar menschenkonform, sein müsse? Wie wollen wir damit umgehen, dass Kapitalismus und Markt den demokratischen Werten diametral entgegenstehen, im Lichte der Erkenntnis, dass alles, was wir einmal „soziale Marktwirtschaft“ nannten, mit dem Ende des konkurrierenden Wirtschaftssystems im Osten nach und nach verschwunden ist oder verschwindet, und allzu oft nur noch nostalgischen Wert hat?

Marx hatte in seiner Theorie des Kapitals bereits verstanden, dass Kapitalismus ein Mechanismus der Akkumulation von Reichtum auf einzelne Personen ist, der die Massen verarmt. Lange Zeit hatten die europäischen Demokratien Wege genutzt, dieser Umverteilung von unten nach oben eigene Mechanismen entgegenzusetzen, die diese Effekte abfederten, weil sie ihrerseits nun Kapital von oben nach unten verteilten. Viele dieser Mittel sind mittlerweile abgeschafft oder sie durften verbleiben, weil sie sich als unwirksam erwiesen. Man mag mir Populismus unterstellen – aber wenn wir uns schon nicht auf wirksame Reichen- und Erbschaftssteuern einigen können, sollten wir in Zeiten wie diesen vielleicht die Zeichen der Zeit nutzen und das U-Boot als Methode der Redistribution von Reichtum etablieren? – Frei nach dem Motto: Was sind fünf Millionäre auf dem Meeresgrund? Ein guter Anfang.

Es ist allerdings offensichtlich, dass Leben und Meinung von Millionären und Milliardären deutlich mehr zählen, als die Normalsterblicher, und umso mehr als die von Nicht-Weißen Menschen, die womöglich ja nicht einmal einen EU-europäischen Pass besitzen. Wenn das Grundgesetz oder die eigentlich allgemeinen Menschenrechte aber an der Haut- oder der Passfarbe eines Menschen Halt machen, sind wir dann überhaupt noch eine Demokratie – oder sind wir dann bereits auf mindestens halbem Wege hinein in eine neofeudalistische Gesellschaft nach US-amerikanischem Vorbild, in der alles eine Ware ist, in der Menschen nur Produktionsmittel sind ohne Recht auf Urlaub oder gar Krankheit, in der eine Schwangerschaft den Bankrott bedeuten kann und in der Millionen aufgewendet werden, um Millionäre aus Booten zu retten, aber nicht ein Cent für Migranten übrig scheint? Eine Gesellschaft, in der ein Job ein Geschenk von Gottes Gnaden, des allmächtigen Dollars, ist, das von den Großbesitzern als Erbarmen vergeben wird, in dem Wasser ein Termingeschäft ist, ein rares Gut also, dass den Shareholdern zu dienen hat, nicht den Durstigen? I’m just asking questions.

Und nur damit ich die FDP, diese Lobbyvereinigung der asozialsten Ausprägung des Kapitalismus, nicht vergesse beim Namen zu nennen: Wenn dieses amorale Pack, von Kubicki über Lindner bis weit hinein in die SPD mit ihrem Krankenhausprivatisierer Lauterbach von ebensolcher Privatisierung reden, dann heißt das immer nur dieses Eine: Die Qualität sinkt, die Preise für die darauf Angewiesenen steigen und alles immer nur mit einem einzigen Zweck: Der Gewinn der Anleger, der Aktionäre, der Shareholder.

Da kann sich ja jede/r einmal selbst für sich überlegen, ob er oder sie zu den Gewinnern einer solchen Privatisierung gehören wird, ob er oder sie das Geld auf der hohen Kante haben, sich ein Krankenhaus, einen Wohnblock oder einen Fluss zu kaufen. Wer das nicht hat, wird am Ende draufzahlen. Isso. Keine weiteren Fragen. Meinung

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