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"Neue Töchter Afrikas" - Unrast Verlag

Exklusiv Buchauszug

Verfolgt wie eine Diebin

Das Buch „Neue Töchter Afrikas“ feiert Schwarze Diversität - eine erlesene Auswahl an Essays, Gedichten und Kurzprosa. MiGAZIN veröffentlicht aus dem Bestseller Yvette Edwards' „Sicherheit“ in voller Länge.

Sonntag, 18.06.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 18.06.2023, 19:06 Uhr Lesedauer: 11 Minuten  |  

Merle bemerkte den Sicherheitsmann in dem Moment, als sie Penny World betrat. Der große, korpulente, weiße Mittvierziger hatte sich auf einem Barhocker am Eingang des Geschäfts in Stellung gebracht, um die hereinkommenden Kund:innen ungehindert im Blick zu haben. Und sie wusste, er hatte sie registriert, denn er stand sofort auf, tat aber so, als würde er wie üblich das Geschäft inspizieren, als wäre das von Anfang an seine Absicht gewesen. Die in ihr aufsteigende Wut, heiß und schnell – wie ein Vulkan, der in ihrer Brust erwachte und ausbrach –, überraschte sie. Überraschte sie zu einer Zeit, als sie wegen so vieler anderer Dinge aufgebracht war, wegen richtiger Probleme wie die des Älterwerdens und war damit der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Eigentlich wollte sie doch nur schnell Sure-Deodorant und eine Rolle Frischhaltefolie besorgen.

Ihr Flug ging morgen früh um elf und es waren Vorkehrungen getroffen worden, sie um fünf Uhr abzuholen, damit sie ihn nicht verpasste. Letzte Woche hatte sie den Koffer gekauft; sie musste, denn der einzige, den sie je besessen hatte, war der, den sie im Juni 1964 von der sechswöchigen Reise von Jamaika nach England mitgebracht hatte. Seit Jahren lag er oben auf ihrem Kleiderschrank, der Metallgriff kaputt, die Schlösser funktionsuntüchtig und taugte zu nichts mehr als zum Verstauen von Dingen. Seit sie hier angekommen war, war sie nie wieder auf Jamaika gewesen, hatte nie Urlaub im Ausland gemacht, nie einen Pass gebraucht, und hier war sie nun, mit achtundsiebzig Jahren auf dem Weg zurück mit einem Koffer von Cheap Cheaper Cheapest, dessen Reißverschluss beim Versuch, ihn zu schließen, immer hakte und dessen kleine Räder geräuschvoll hinter ihr herrumpelten, nachdem sie ihn bezahlt hatte und das brandneue, leere Ding nach Hause zerrte.

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Der Koffer war gepackt – wahrscheinlich hatte sie zu viel eingepackt – und lag nun offen auf ihrem Bett. Nur das Sure-Deo musste noch rein. War das erledigt und der Kampf mit dem vertrackten Reißverschluss erneut bestanden, würde sie die Frischhaltefolie um den Koffer wickeln, das gäbe ihr die größte Chance, mit Würde und Kofferinhalt – beide unbeschädigt – diese, ihre erste Reise zurück nach Kingston zu überstehen.

Der Sicherheitsmann trug eine dunkle, sauber gebügelte Uniform und eine flache schwarze Armeekappe, die er so tief ins Gesicht gezogen hatte, dass sie beinahe den dünnen Rahmen seiner großen verspiegelten Brille berührte. Außerdem verströmte er die Rastlosigkeit amerikanischer Cops, die Merle aus Hollywood-Actionfilmen kannte; an der Kühlerhaube ihres Polizeiwagens lehnend und ungeduldig darauf wartend, ihre Waffe ziehen zu können. Für gewöhnlich nahm sie einen Korb, in den sie ihre Einkäufe legte, während sie herumlief. Sie hielt den Korb immer hoch und gut sichtbar, trug ihn nicht auf der gleichen Seite wie ihre Handtasche in der Hoffnung, damit deutlich zu machen, dass sie eine ehrliche Person war, die nie in ihrem Leben etwas hatte mitgehen lassen. Heute aber hielt ihr Zorn sie davon ab. Eine innere Stimme flüsterte ihr einen Satz zu, den laut zu sagen ihr die Höflichkeit verbat, der aber perfekt zu ihrer Gemütslage passte und sie beinahe lächeln ließ: Der kann mich mal am Allerwertesten küssen.

Sie wusste, die Deos befanden sich in Gang 4 und die Frischhaltefolie in Gang 5. Der schnellste Weg dahin verlief zwischen den Kassen und Gängen, aber sie entschied sich dagegen. Stattdessen begann sie, Gang 1 in seiner ganzen Länge entlangzugehen, hielt vor den Nüssen und getrockneten Früchten, schielte verstohlen nach oben zur Überwachungskamera an der Decke und hoffte, so besonders verdächtig zu erscheinen. Sie griff nach ein paar Pistazien, begutachtete die Packung und drehte sie um, als ob sie die Informationen auf der Rückseite lesen würde, obwohl die in einer fremden Sprache geschrieben waren. Die Richtung, aus der sie gerade gekommen war, beobachtete sie nicht, brauchte sie auch nicht, denn sie wusste, dass der Sicherheitsmann ihr gefolgt war. Genauso, wie sie seine Observierung und Verfolgung bei früheren Besuchen gefühlt hatte, fühlte sie ihn auch jetzt. Sie linste wieder nach der Kamera, sah weg, stellte die Schachtel zurück ins Regal und lief weiter.

Achtundsiebzig Jahre alt und immer bemüht, sich sauber und ordentlich zu kleiden und sich korrekt zu verhalten. Wäre sie eine Fremde, die versuchte herauszufinden, was für eine Person sie sein könne, wäre das Wort, das einem dazu einfiel, Kirche. Trotzdem war sie in den vierundfünfzig Jahren, die sie bereits in England lebte und in denen sie ihr Geld in Geschäften mit Sicherheitsdienst ausgegeben hatte, regelmäßig verfolgt worden wie eine Diebin.

Info: Neue Töchter Afrikas, erschienen im Unrast Verlag; 1. Edition (13. April 2023), ISBN: 978-3-89771-616-2, Erscheinungsdatum 13. April 2023, 256 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag

Einundvierzig dieser vierundfünfzig Jahre hatte sie als Altenpflegerin gearbeitet, hatte alte Menschen gefüttert, sie an- und ausgezogen, sie ins Bett oder in die Wanne hinein- und wieder herausgehievt, auf Stühle gesetzt und davon hochgezogen, ihnen auf und von Toiletten geholfen oder vom Boden, wenn sie gestürzt waren. Der Lohn dafür waren Rückenschmerzen, die sie bis zum heutigen Tag plagten. Sie säuberte die Alten im Intimbereich und wechselte ihr nasses Bettzeug und ließ sich nichts anmerken, wenn die zu ihr sagten, sie wollten nicht, dass ihre Schwarzen Hände sie berührten, weder sie noch ihr Essen, ihr Besteck oder die Medizinbecher. Mit Argwohn war sie von genau den Menschen beobachtet worden, um die sie sich kümmerte, deren gesamte Widerwärtigkeit sie aufwischte. Für die Alten schien der einzige Grund, aus dem sie die vom Arbeitgeber vorgeschriebene Montur trug, Handschuhe anhatte, Mopp und Eimer schleppte, der zu sein, ihnen die paar Schekel zu stehlen, die sie in Geldbeuteln unter ihren Matratzen und ganz hinten in ihren Schubfächern versteckten. Und: Hegte sie Groll gegen sie? Nein, tat sie nicht. Sie schenkte ihnen trotz allem nette Worte zum Muttertag, zu Geburtstagen und Weihnachten, wenn weder Familie, noch Kinder oder Freunde aus vergangenen Zeiten kamen, um diesen besonderen Tag mit ihnen zu verbringen. Sie spendete ihnen Trost in ihrer Einsamkeit, lächelte in ihre versteinerten Gesichter und stand ihnen in ihren letzten Stunden bei, in denen sie sonst allein gewesen wären.

Merle trödelte noch ein bisschen herum, als sie das Ende des Ganges erreicht hatte, nahm alle möglichen Produkte, die sie nicht zu kaufen beabsichtigte, in die Hand, ohne sich umzuwenden. Dann, nachdem sie um die Ecke gebogen und außer Sichtweite des Sicherheitsmannes war, begann sie schnell zu gehen. Sie rannte beinahe, achtete lediglich darauf, nicht auszurutschen oder zu stolpern und damit ihren 78-jährigen Körper zu zerbrechen. Sie lief gerade so schnell, wie es sicher er- schien, denn wenn sie sich verletzte, würden die vielleicht behaupten, sie hätte das vorsätzlich getan, um dem Flug zu entgehen. Und Gott allein wusste, ob sie nach all den Jahren, in denen sie Teile ihres Lohnes in die Staatliche Versicherung eingezahlt hatte, berechtigt war, über die Staatliche Gesundheitsversorgung behandelt zu werden. Zielstrebig hastete sie Gang 2 hinunter, bog wieder ab zurück in Gang 1, eilte auch den entlang und umrundete zum zweiten Mal das obere Ende. Sie wurde erst langsamer, als sie den Sicherheitsmann einige Schritte vor sich sah, mit abgewandtem Gesicht, der Körper alarmbereit, sein Kopf in Bewegung wie bei einem Erdmännchen und zweifelsohne überrascht, wohin die alte Dame verschwunden war. Direkt hinter ihm kam sie zum Stehen und als er sich verdattert umdrehte, griff Merle nach einer 50er-Packung Einwegtassen und heftete ihren Blick darauf. Sie versuchte, ruhig zu atmen, während sie voller Freude sein Erstaunen genoss, dass die Frau, die er verfolgt hatte, nun direkt hinter ihm stand.

Yvvette Edwards (sie/ihr) lebt in London, ihre Eltern wurden in der Karibik geboren. Sie ist Autorin zweier Romane, A Cupboard Full of Coats (2011) und The Mother (2016), und hat eine Reihe von Kurzgeschichten geschrieben, die in Anthologien veröffentlicht und im Radio dramatisiert wurden. Ihre Werke wurden für Literaturpreise in Großbritannien und den USA nominiert, darunter der NAACP Image Award, der Commonwealth Writers’ Prize, der Man Booker Prize, der International IMPAC Dublin Literary Award und der Hurston-Wright Legacy Award. Yvvette Edwards war Jurymitglied beim ersten Jhalak Prize for Writers of Colour und bei der George Floyd Short Story Competition. Sie ist eine erfahrene Mentorin und betreut derzeit aufstrebende Schriftsteller:innen im Rahmen des Britischen Escalator-Programms des National Centre for Writing. Im November 2020 wurde sie zum Mitglied der Britischen Royal Society of Literature gewählt.

Nach England zu gehen hatte Merle ihren Sohn gekostet. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie Mutterschaft gegen Mutterland eintauschte. George war gerade einmal acht, als sie ihn in der Obhut von Onkel Backfoot zurückgelassen hatte. Das Geld für ein Ticket – das sie aber zurückzahlen musste – hatte sie sich zusammengeschnorrt und zusammengeborgt. Sie reiste, ohne Job oder Unterkunft in Aussicht, nur mit der Überzeugung, willkommen zu sein und Möglichkeiten zu haben, eine Chance, etwas aus sich zu machen, genügend Geld für ein annehmbares Leben zu verdienen und für eine Zukunft für George zu sorgen. Sicherheit. Hoffnung. Es sollte nur für ein paar Jahre sein, nur so lang, bis sie etwas Geld gespart hatte, um nach Hause zurückkehren und für sie beide ein kleines Häuschen bauen zu können, mit einem kleinen Laden oder einer Rum-Handlung oder frisch gekochtem Essen, das vor dem Haus serviert wurde. Aber sie hatte unterschätzt, wie hart es sein und wie lange es dauern würde, einfach nur auf die Beine zu kommen. Erst als sie hier ankam in ihrem knappen Inselkleidchen und der dünnen Jacke, begriff sie, dass keine Vorkehrungen für sie getroffen worden waren, dass sie bei Vorstellungsgesprächen, auf Ämtern oder auf den Stufen von Häusern mit vermietbaren Zimmern so viel Abneigung ausgesetzt war. Sie war so oft umgezogen, dass es neun Jahre dauerte, bis sie die Anforderungen eines Fünf-Jahres-Aufenthalts erfüllte, der es ihr erlaubte, kommunale Hilfe für ihre Wohnung zu beantragen. Bis dahin war George ohne sie erwachsen geworden und voller Groll. Sie hatten seit Jahren nicht miteinander gesprochen. Er lebte in den Staaten mit Enkeln, die sie nie gesehen hatte.

Als der Sicherheitsmann davonging, stellte Merle die Einwegtassen zurück ins Regal und folgte ihm. Sie wusste, er wusste, er wurde verfolgt; sie konnte einen Streifen Nacken zwischen seinem Hut und dem Jackenkragen sehen, der mit jedem Schritt röter wurde. Er hielt kurz an, hoffte wohl, sie würde weitergehen, doch sie blieb ebenfalls stehen, griff nach einem Geschirrtuch, das sich in ihrer Hand entrollte und eine Abbildung des Parlamentsgebäudes, gedruckt auf billigem Stoff, zum Vorschein brachte. Aus dem Augenwinkel sah sie den Sicherheitsmann auf sich zukommen, als wolle er etwas sagen, aber er sagte nichts, sondern machte auf dem Absatz kehrt und lief weiter. Sie auch. Am Ende des Ganges bog er nach rechts ab, Richtung Gang 3, und sie folgte ihm, kam aber abrupt zum Stehen, als sie beinahe mit seinem regungslosen Körper kollidierte, der um die Ecke auf sie wartete. Er war mehr als einen halben Meter größer als sie. Merle blinzelte zu ihm hinauf und sah sich selbst reflektiert in der verspiegelten Brille, hinter der er zurückstarrte.

Sie sagte: „Das fühlt sich nicht sehr gut an, oder?“

Die Stimme des Sicherheitsmannes war tief, basslastig und mit einem starken Akzent, den Merle nur grob als osteuropäisch einordnen konnte. Er sagte: „Mein Job, stop stehlen!“

Sein Akzent gab ihr den Rest; sie wusste auch nicht, warum. Es änderte nichts an dem, was vorgefallen war, bis hin zu diesem letzten Affront. War es, weil er mit der Autorität ausgestattet worden war, sie wie eine Kriminelle zu behandeln, obwohl er selbst neu im Land war? Meinte sie, er hätte kein Recht dazu, weil er kein Brite war? Oder weil es ihm, bis er den Mund auftat, gelungen war durchzukommen, sich stillschweigend innerhalb des Systems als Einheimischer zu positionieren, während sie dazu gebracht wurde, sich nach über 45 Jahren immer noch wie eine Ausländerin zu fühlen? Jetzt auch ganz offiziell eine Fremde.

Sie sagte: „Fein, Sie müssen sich keine Sorgen mehr machen, dass diese Frau jemals wieder stehlen könnte. Es wird Sie freuen zu hören, dass ich abgeschoben werde.“ Sie drückte ihm das Geschirrtuch, das sie noch immer hielt, in die Hand. Dann lief sie um ihn herum und direkt auf Gang 4 zu, hoch konzentriert und entschlossen, nicht zusammenzubrechen. Sie war sich sicher, dass es in Jamaika jede Menge Deos gab, aber vielleicht nicht Sure, ihre Lieblingsmarke. Sie nahm vier Deo-Roller, erinnerte sich daran, wie heiß es auf Jamaika war und nahm noch zwei mehr. Die Aufruhr in ihrer Brust verlagerte sich in ihren Kopf. Noch pochte er, aber bald würde er hämmern. Sie begab sich zur Frischhaltefolie in Gang 5.

Nachdem sie an der Kasse bezahlt und ihre Einkäufe in die mitgebrachte Tragetasche gepackt hatte, sah sie den Sicherheitsmann wieder auf seinem Barhocker sitzen und realisierte, dass sie auf ihrem Weg zum Ausgang an ihm vorbei musste. Sie hatte entschieden, ihn einfach zu ignorieren, aber als sie sich seinem Hochsitz näherte, lächelte er sie an und sie konnte beim besten Willen nicht deuten, was damit gemeint war. Solidarität? Mitleid? Häme?

Sie verlangsamte ihre Schritte, hielt aber nicht an. In der Reflexion seiner Brillengläser sah sie eine stolze alte Dame mit erhobenem Kopf. Ihre Stimme war fest, als sie sagte: „Heute bin ich es, aber morgen werden sie hinter dir her sein.“ Aktuell Feuilleton

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