Schule als Thriller
Latente Diskriminierung und offener Rassismus
lker Çataks Film „Das Lehrerzimmer“ erzählt vom Kosmos Schule mit einer Geschichte, in der es um Macht, Einfluss und Übergriff geht - eine Geschichte, die sich interkulturellen Erfahrungen des Regisseurs speist, als in Deutschland geborener Sohn türkischer Einwanderer.
Von Anke Sterneborg Mittwoch, 03.05.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03.05.2023, 12:12 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Ein Gymnasium am Rande von Hamburg, keine Brennpunktschule, auch wenn es einige Kinder mit Migrationshintergrund gibt. Dazu ein Problem, dem schwer beizukommen ist: Immer wieder verschwindet Geld aus Taschen und Ranzen. Und mittendrin eine junge, engagierte Lehrerin, die alles richtig machen will. Wie das Recht mit der Realität kollidiert, davon hat der Berliner Regisseur Ilker Çatak schon öfter erzählt, davon, dass es unter Menschen eigentlich nie einfache Lösungen gibt.
So betritt die resolute Direktorin mit zwei Lehrern als Verstärkung ein Klassenzimmer. Zuerst werden alle Mädchen aus dem Raum geschickt, dann folgt die Ansage: „Alle, die jetzt noch hier sind, hören genau zu. Wir würden gern einen Blick in eure Portemonnaies werfen“, kündigt sie an. „Das Ganze ist natürlich freiwillig, aber wer nichts zu verbergen hat, der braucht sich auch keine Sorgen machen!“, räumt sie halbherzig ein. Wer unschuldig ist, wird impliziert, brauche ja auf sein Recht nicht zu pochen. Und umgekehrt gilt: Wer sein Recht fordert, macht sich verdächtig.
Ein ganz anderes Kaliber
Die Sätze haben es in sich, den Kindern steht eine moderate Verstörung in die Gesichter geschrieben. Aber das wahre Ereignis in dieser Szene ist Leonie Benesch als junge Lehrerin Carla Nowak, in deren Matheunterricht die Delegation hereingeplatzt ist. Eine ganze Sinfonie widersprüchlicher Gefühle lässt sich auf ihrem Gesicht ablesen: eine Mischung aus fassungslosem Entsetzen und mühsamer Zurückhaltung, aus Empörung und Beherrschung, aus Wut auf die übergriffigen Kollegen und Empathie für die Kinder, die ihnen ausgeliefert sind.
Und sofort merkt man, dass dieser Film ein ganz anderes Kaliber ist als etwa der in einem Lehrerzimmer spielende Film „Eingeschlossene Gesellschaft“, in dem Sönke Wortmann sein Lehrpersonal wie Schachfiguren in einer Versuchsanordnung auftreten ließ.
Schauplatz Schule
Auch „Das Lehrerzimmer“ ist auf einen einzigen, etwas weitläufigeren Schauplatz beschränkt, eine Schule mit ihren Klassenräumen, dem Lehrerzimmer, der Turnhalle, den Gängen dazwischen und dem Schulhof davor. Was Kinder und Lehrer jenseits der Schule tun, spielt keine Rolle für den Gang der Ereignisse, die sich ganz aus der Perspektive der jungen Lehrerin entfalten. Immer ist man in ihrem Beisein, immer in ihrem Blick, immer in ihren mal offenen, mal gedrosselten Reaktionen.
Als engagierte Lehrerin will Carla Nowak ihre Verantwortung für die Kinder wahrnehmen, ist zugleich aber auch die Neue im Kollegium, die die an der Schule geltenden Codes erst noch entschlüsseln muss. Es ist eine enge Welt, in der Gefühle nicht entweichen können und die immer ganz direkte Reaktionen fordert. Dann macht auch Carla Nowak einen Fehler, der dazu führt, dass die Dinge eskalieren.
Geschichte speist sich aus interkulturellen Erfahrungen
Wie oft in den Filmen von Ilker Çatak hilft es auch hier nicht, dass jemand alles richtig machen will. Und wie immer speist sich die Geschichte aus den interkulturellen Erfahrungen, die Çatak als in Deutschland geborener Sohn türkischer Einwanderer gemacht hat, oder besser noch: aus einem generell wachsamen Blick für seine Umgebung. Ein Blick für die Probleme mit der Wahrheitsfindung und dem Zündstoff, der im Zusammentreffen verschiedener Kulturen und Klassen liegt.
Ebenso für das weite Spektrum von latenter Diskriminierung bis zu offenem Rassismus im mehr oder weniger militanten Eintreten für die eigenen Interessen. Im Kleinen der Schule untersucht Çatak dieselben Kräfte, die auch im Großen der Gesellschaft wirken. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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