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Dr. Benjamin Bieber

Benjamin Bieber im Gespräch

Erstorientierungskurse für Einwanderer vor dem Aus

Zwischen dem Bedarf für Erstorientierungskurse und dem Bundeshaushalt 2023 klafft eine riesige Lücke. Viele Träger und Kurse stehen vor dem Aus. Im MiGAZIN-Gespräch erklärt Dr. Benjamin Bieber, warum die Kurse wichtig und welche Arbeit sie „im Maschinenraum der Integration“ leisten.

Dienstag, 31.01.2023, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 31.01.2023, 12:15 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Sie kritisieren im Etat für 2023 Mittelkürzungen für Integrationsmaßnahmen. Welche Bereiche sind betroffen?

Benjamin Bieber: Der Bundeshaushalt 2023 vom November 2022 hat alle Träger von Erstorientierungskursen (EOK) hart getroffen. Im Vorfeld sollten Einsparungen in drei Bereichen vorgenommen werden: Migrationsberatung für Erwachsene (MBE), Integrationskurse (IK) und EOK. Nach Protesten von Verbänden wurden die ersten beiden Kürzungen zurückgenommen, bei den EOK jedoch nicht. Woran das lag, ist uns leider nicht ersichtlich.

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2022 sah der EOK-Etat bundesweit 21,9 Mio. Euro vor, die aufgrund des gestiegenen Bedarfs – unter anderem durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – auf 45 Mio. erhöht wurden. Für 2023 sieht der BMI-Haushalt aktuell ca. 25 Mio. Euro vor; benötigt werden jedoch mindestens 40 Mio. Euro. Das Problem: Der Bedarf bleibt, aber die Mittel fallen massiv zurück.

„Schaden nehmen vor allem die Schutzsuchenden und Zuwanderer.“

Schaden nehmen vor allem die Schutzsuchenden und Zuwanderer. Die Politik argumentiert, dass der Fokus auf die Aufstockung der Integrationskurse gelegt wird, die als zentrales Instrument der Integration gesehen werden. Doch diese Begründung hinkt: wenngleich auch die Integrationskurse eine Erweiterung der Zielgruppe ab 2023 vorsehen, bedienen die EOK eine deutlich breitere Klientel auf eine flexiblere Weise und an Orten, an denen Integrationskurse bisher überhaupt nicht stattfinden.

Klären Sie uns bitte einmal auf: Was ist in Erstorientierungskursen anders?

Benjamin Bieber: Die EOK sind flexibler, weil sie kein starres Programmschema haben, an dessen Ende notwendigerweise ein Sprachtest steht. Jeder EOK passt sich durch die von den Lehrkräften gebotene Binnendifferenzierung an die Gegebenheiten der Teilnehmer:innen an. Alle werden mitgenommen, keiner bleibt zurück. Und wer in einem Integrationskurs weitermachen kann und will, hat durch den EOK die idealen Voraussetzungen dafür geschaffen.

Dr. Benjamin Bieber, Jg. 1973, hat sich als Soziologe mit den sozialen Folgen von Kriegen beschäftigt; für die Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. ist er seit 2015 tätig. Seit 2018 leitet er die Abteilung Flüchtlingshilfe und Integration des Regionalverbands Hanau & Main-Kinzig. Er koordiniert auch das EOK-Programm der Johanniter in Hessen.

Die EOK sind das erste Glied in der sogenannten Bildungskette. EOK, Integrationskurse, Berufssprachkurse – all diese Formate bauen sinnvoll aufeinander auf, ergänzen sich. Beide Angebote – sowohl die EOK als auch die IK – werden in 2023 stark nachgefragt werden und wir sind überzeugt, dass der Bedarf mit den jetzigen Ressourcen nicht gedeckt werden kann.

Was bedeutet das für die praktische Integrationsarbeit in Hessen?

Benjamin Bieber: Die EOK sind in Hessen bereits seit 2016 ein fester Bestandteil der Integration, für die der Grundstein in der Erstaufnahme gelegt wird. Seit Juli 2017 haben alle Träger in Hessen über 18.000 Personen unterrichtet, und zwar in über 580 Kursen an fast 170 Standorten. Basierend auf der Bedarfslage haben alle hessischen Träger mit der Zentralstelle Hessen 280 Kurse für 2023 gemeldet – bewilligt wurden lediglich 80. Allein bei uns Johannitern in Hessen wurden von 57 beantragten EOK nur 20 genehmigt, der Hessische Volkshochschulverband hatte 120 Kurse beantragt und 26 Kurse erhalten.

Wir als Johanniter in Hessen unterrichten gegenwärtig in sechs von acht Erstaufnahmen des Landes Hessen sowie in Gemeinschaftsunterkünften. Außerdem bieten wir Video-EOK an, die wir während der Pandemie etabliert haben. So können wir viele bei Gastfamilien untergebrachte ukrainische Schutzsuchende und Personengruppen unterrichten, die aufgrund mangelnder Mobilität oder fehlender Kinderbetreuung nicht an regulären Angeboten teilnehmen können.

Wann werden sich die Mittelkürzungen bemerkbar machen?

„Drastisch werden die Kürzungen in den Erstaufnahmen in Hessen ab 1. Juli 2023 zu merken sein: Dann müssen wir die Arbeit einstellen.“

Benjamin Bieber: Drastisch werden die Kürzungen in den Erstaufnahmen in Hessen ab 1. Juli 2023 zu merken sein: Dann müssen wir die Arbeit einstellen, weil die entsprechenden Haushaltsmittel fehlen. Der Bedarf ist immens; die Tageszugänge in Hessen liegen zwischen 150-200 Personen. Die Intention des BMI, die Integrationskurse zu stärken, ist in der Realität noch nicht zu spüren: Es gibt monatelange Wartezeiten, zu wenig Lehrkräfte und eine mangelnde Abdeckung. Die Ausweitung der Zielgruppe wird die Probleme noch steigern.

Info: Erstorientierungskurse (EOK) gibt es bundesweit seit dem 1. Juli 2017. Federführend ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Die Kurse sind modular aufgebaut: Ein EOK dauert 300 Unterrichtseinheiten (je nach Stundenplanung der Träger ca. 3-4 Monate) und besteht aus 6 Modulen, die sich aus einem Pool von 11 Themen speisen: Gesundheit, Arbeit, Mobilität, Schule, Alltag usw. Zwischen 1. Juli 2017 und 31. Dezember 2022 wurden bundesweit ca. 177.000 Personen unterrichtet, in etwa 7.000 Kursen, an 1.700 Standorten.

Ein EOK ist ein niedrigschwelliges Sprachangebot, das schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen ansetzt. Aber auch in den kommunalen Unterkünften haben wir Leute getroffen, die nach zwei oder drei Jahren Aufenthalt noch keinen Sprachkurs besucht haben. Hier kommen wieder die EOK mit ihrer Flexibilität ins Spiel: der Informatiker aus der Türkei, die Hotelfachfrau aus Äthiopien, das Ehepaar aus Afghanistan, das nicht lesen und schreiben konnte: alle haben sie bei null angefangen, alle konnten sie am Ende des Kurses lesen, schreiben und in einfacher Sprache kommunizieren. Viele schicken unseren Lehrkräften später mit Stolz ihre Sprachzertifikate.

Fühlen Sie sich von der Politik im Stich gelassen?

Benjamin Bieber: Ich glaube, es fehlt an Kenntnis zu dem Konzept EOK und dessen Wirkung bzw. Bedeutung: Die EOK haben immer hervorragende Arbeit im Maschinenraum der Integration geleistet. Sie sind allerdings weniger bekannt als die Integrationskurse. Hier müssen wir nachsteuern im Sinne des Mottos: „Tue Gutes und rede darüber“.

Was ich der Politik also gern deutlich machen würde, ist, wie gut dieses Programm wirkt und dass es nicht durch Integrationskurse ersetzt werden kann. Beide Programme sind komplementär zu verstehen. Gerade in den Erstaufnahmeeinrichtungen, aber auch in den Gemeinschaftsunterkünften sind die EOK-Lehrkräfte Vermittler, Türöffner und ein Anker für die Menschen. EOK sind kein Notbehelf, keine Improvisation; sie sind ein erprobtes und bewährtes Integrationsinstrument. Wer hieran spart, spart an entscheidender Stelle: nämlich am Fundament.

Bildung und Sprache für die, die hier neu angekommen sind und gerne so schnell wie möglich in Lohn und Brot kommen wollen, werden durch diese Kürzungsentscheidung erheblich behindert.

Wie kommen die Kürzungen bei den Lehrkräften und Helfenden an?

„Ein Träger, der EOK für Gehörlose angeboten hat, ist bereits ausgestiegen. Diese inklusiven Strukturen sind in Gefahr.“

Benjamin Bieber: Als wir im Herbst 2022 von den massiven Kürzungen erfuhren, waren wir erst einmal schockiert: die Träger, die Lehrkräfte und die Zentralstelle. Es brechen bereits die ersten Maßnahmen weg: Ein Träger, der EOK für Gehörlose angeboten hat, ist bereits ausgestiegen. Das Modell EOK ist mittlerweile so ausdifferenziert, dass auch solche speziellen Kurse angeboten werden konnten. Diese inklusiven Strukturen sind nun in Gefahr.

Die Berliner Entscheidung trifft auf großes Unverständnis. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Kürzungen haben sich die EOK-Träger in Hessen mit der Zentralstelle zusammengetan. Es wurden Gespräche mit der Politik geführt, Briefe und Stellungnahmen versendet. Wir hoffen darauf, dass die EOK so schnell wie möglich wieder auf sichere Füße gestellt werden.

Sehen Sie noch eine Chance für eine politische Kehrtwende und was sind Ihre Forderungen?

Benjamin Bieber: Ja, das tue ich tatsächlich: Die Signale, die wir nach dem gemeinsamen Brief erhalten haben, stimmen uns vorsichtig optimistisch. Nach unseren Interventionen werden wir in näherer Zeit weitere Gespräche mit Mandatsträgern führen. Was uns sehr freut, ist, dass das Thema EOK auf der Agenda der nächsten Integrationsministerkonferenz steht.

Wir setzen uns aktiv auf allen Ebenen für das Thema EOK ein. Jetzt geht es erst einmal um eine Nachbewilligung im Haushalt 2023; dann geht es auch darum, dass die EOK in 2024 wieder adäquat ausgestattet werden. Wenn sich die Situation für dieses Jahr allerdings nicht schnellstmöglich ändert, läuft uns die Zeit davon. Noch können wir den Strukturabbau, der bereits begonnen hat, eindämmen. Zum 1. Juli allerdings würden ohne Nachbewilligung in den EOK in Hessen die Lichter ausgehen. Aktuell Interview Panorama

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