Holocaust-Gedenktag
Gunter Demnig verlegt auch mit 75 noch Steine
Dieses Frühjahr sollen es 100.000 Stolpersteine sein, die Gunter Demnig seit dem offiziellen Start des Projekts in den 90er Jahren verlegt hat. Eigentlich wollte er mit 75 Jahren etwas kürzertreten, aber die Knie machen noch mit.
Von Carina Dobra Donnerstag, 26.01.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 26.01.2023, 12:14 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Gunter Demnig mag Katzen. 19 Stück hat der Künstler mit dem braunen Cowboyhut inzwischen mit Ehefrau Katja bei sich zu Hause im mittelhessischen Alsfeld-Elbenrod aufgenommen. Viele von ihnen seien Pflegefälle, erzählt der 75-Jährige bei einer Tasse Kaffee. Doch Gunter Demnigs Lebenswerk sind die Stolpersteine, wie er selbst sagt. Seit Mitte der 90er Jahre widmet sich der gebürtige Berliner dem Projekt. Etwa 95.000 Stolpersteine zum Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus hat er mittlerweile verlegt, dieses Frühjahr will er die 100.000 erreichen.
Die knapp zehn mal zehn Zentimeter großen Würfel verlegt der Bildhauer deutschland- und europaweit auf den Gehwegen vor den letzten Wohnstätten von Menschen, die von den Nationalsozialisten deportiert, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden. In Messingplaketten auf den Steinen sind Name und Schicksal der Opfer eingraviert.
Kampf mit den Tränen
An viele Geschichten erinnert sich der Bildhauer bis heute. „Einmal, bei einer Verlegung, kamen zwei Schwestern. Die eine aus Kolumbien, die andere aus Schottland, beide waren damals durch einen Kindertransport gerettet worden, die Eltern wurden ermordet. Die hatten sich seit 60 Jahren nicht gesehen und meinten: Jetzt sind wir mit unseren Eltern wieder vereint.“ Demnig schlägt sich mit der flachen Hand vor die Augen, kämpft mit den Tränen: „Dann weißt du, warum du das machst.“
Die Initiative zu den Steinverlegungen geht inzwischen von Geschichtsvereinen, Bürgerinitiativen, Angehörigen oder auch Schulprojekten aus, die Demnig anfragen. 132 Euro kostet ein Stein inklusive Verlegung.
Einen Moment innehalten
Info: 27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus: Während der NS-Zeit ermordeten die Nationalsozialisten in Auschwitz mehr als anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Gefangenen des Konzentrationslagers. Der Jahrestag der Befreiung wurde 1996 auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog offizieller deutscher Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Vereinten Nationen erklärten den 27. Januar im Jahr 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts.
Zwölf solcher Steine liegen seit Dezember vergangenen Jahres auch in Frankfurt-Nieder-Eschbach. Einer der Steine ist Karl Bruder gewidmet. Der Frankfurter wurde 1940 aufgrund seiner Epilepsie in die Uniklinik Gießen zwangseingewiesen und dort im Alter von 23 Jahren gegen seinen Willen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwangssterilisiert.
„Ich habe Asthma. Mich hätte es heute vielleicht auch treffen können“, sagt der 19-jährige Joshua von der Otto-Hahn-Schule in Nieder-Eschbach, der sich im Geschichtsunterricht mit dem Schicksal von Karl Bruder beschäftigt hat. Auch seine Mitschülerin Leonie (18) ist bestürzt: „Ich kann das einfach nicht nachvollziehen. Das nimmt einen schon mit. Vor allem, weil ich hier um die Ecke wohne.“ Sie werde von nun an noch aufmerksamer auf die Messing-Steine im Boden achten und einen Moment innehalten.
Es ist ein Unterschied
Gunter Demnig freut sich über das Engagement der Schülerinnen und Schüler: „Es ist ein Unterschied, ob die Jugendlichen ein Buch aufschlagen und von sechs Millionen ermordeten Juden lesen oder von einem Familienschicksal vor Ort erfahren“, ist der Künstler überzeugt.
Doch die Stolpersteine haben auch Kritiker, wie zum Beispiel einzelne Vertreter jüdischer Organisationen. Die Schicksale der Opfer würden im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten, wirft etwa Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Demnig vor.
Der nächste Tripp in Planung
Der Künstler weist ein solch „unsägliches Gegenargument“ von sich: Die Kritiker würden die Gräueltaten der Nazis mit solchen Aussagen verharmlosen und die Opfer verhöhnen: „Die Nazis haben sich nicht mit Rumtrampeln auf den Opfern begnügt. Die hatten ein gezieltes Vernichtungsprogramm.“
Auch Morddrohungen hat der Stolperstein-Erfinder schon erhalten. All das hält ihn nicht davon ab, weiter Steine in mittlerweile 1.265 Kommunen Deutschlands und in 21 Ländern Europas zu verlegen. Gerade plant der Künstler schon den nächsten Trip – diesmal nach Italien.
Solange die Knie noch mitmachen
Eigentlich wollte Demnig mit 75 Jahren etwas kürzertreten, längst arbeitet der Berliner mit einem Team zusammen. „Aber solange die Knie noch mitmachen“, scherzt der Künstler, solange werde er auch noch Steine verlegen.
Und dann wäre da noch seine Stiftung, die nach eigenen Angaben seine Ideen und sein Lebenswerk bewahren soll. Auf seinem Grundstück, einem ehemaligen Gehöft, läuft außerdem die Dauerausstellung „Gunter Demnig: Spuren und Wege“. Dort zeigt der Stolperstein-Künstler bislang unbekanntere Werke, die zur Idee der Gedenksteine geführt haben. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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