Chancen-Aufenthaltsrecht
Perspektiven für Geduldete
Die Ampel-Koalition hat mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt. Filiz Polat zufolge wird es die Lebenssituation vieler Menschen nachhaltig verändern - ein Gastbeitrag.
Von Filiz Polat Dienstag, 06.12.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 06.12.2022, 13:23 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Mit der Zustimmung des Bundestages zum Chancen-Aufenthaltsrecht haben wir am 2. Dezember das erste zentrale flüchtlingspolitische Vorhaben des Koalitionsvertrages umgesetzt. Besonders bedeutsam war sicherlich die Enthaltung von 20 Kolleg:innen aus der Unionsfraktion. Viele der sich enthaltenden Abgeordneten setzen sich seit langem innerhalb der CDU/CSU für eine modernere Integrationspolitik ein. Diese Enthaltungen können keinesfalls als simpler Protest gegen die aktuelle Fraktionsführung gesehen werden, schließlich enthielten sich selbst einer der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden sowie weitere namhafte Abgeordnete. Sie folgten damit der Linie, die bei diesem Thema seit Monaten auch Kirchen, Wohlfahrtsverbände sowie Wirtschaft und Zivilgesellschaft vertreten. Auch die Fraktion Die Linke enthielt sich.
Dieses Abstimmungsverhalten belegt den Paradigmenwechsel, den wir mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht anstoßen: Zu viele Menschen befinden sich in Deutschland in Kettenduldungen, die Menschen oft aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließen. Ziel ist es, mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht diese entwürdigende Praxis nun endlich zu beenden und Perspektiven zu eröffnen.
240.000 Menschen leben aktuell mit einer sogenannten Duldung und somit ohne gültige Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, 137.000 von ihnen bereits seit über fünf Jahren. Für die betroffenen Personen bedeutet das häufig: kein Zugang zum Arbeitsmarkt, kein Zugang zu bundesfinanzierten Sprachkursen und ständige Unsicherheit. Dieser Situation stellen wir nun endlich eine neue Perspektive entgegen: Mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht erhalten geduldete bzw. gestattete Personen, die mit dem Stichtag 31.10.2022 fünf Jahre straffrei in Deutschland leben, sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen und nicht durch wiederholte Täuschung über ihre Identität oder Staatsangehörigkeit die Abschiebung verhindern, ein Aufenthaltsrecht von 18 Monaten. Dadurch bekommen sie die Chance, in dieser Zeit die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis auf Dauer zu erbringen.
„Viel zu oft wurden Migrant:innen bisher mit einer immer wieder verlängerten Duldung zur Hoffnungslosigkeit verdammt.“
Hier geht es um wesentliche Punkte wie die Lebensunterhaltssicherung, Sprachkenntnisse und Identitätsnachweise. Viel zu oft wurden Migrant:innen bisher mit einer immer wieder verlängerten Duldung zur Hoffnungslosigkeit verdammt.
Wie Menschen in eine Duldung gelangen, ist dabei sehr unterschiedlich: ein abgelehnter Asylantrag, der Verlust der Arbeit bei einem Arbeitsvisum oder auch, weil Menschen in eine Duldung hineingeboren werden, denn Kinder ‚erben‘ den Aufenthaltsstatus ihrer Eltern. Dass etwa ein Asylantrag abgelehnt wurde, heißt aber nicht, dass die betroffene Person abgeschoben wird, etwa weil ihr in ihrem Herkunftsland Gefahr droht. So wurden zwar die Asylanträge von Afghan:innen in der Vergangenheit häufig abgelehnt – schließlich galt Afghanistan unter der Vorgängerregierung bis zum Zusammenbruch und der Übernahme der Taliban als ‚sicheres Herkunftsland‘. Die für die Abschiebungen zuständigen Länder sahen das berechtigterweise aber anders, sodass viele Afghan:innen mit einem abgelehnten Asylbescheid, aber einer Duldung in Deutschland leben.
Diese für die Betroffenen frustrierende und lähmende Praxis der Kettenduldung verhindert eine sichere Lebensplanung und oft auch die Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft, denn viele geduldete Personen unterliegen einem Beschäftigungsverbot. Aber selbst, wenn sie arbeiten dürfen, finden sie aufgrund ihrer unsicheren Aufenthaltssituation häufig keinen Job. Für die Unternehmen ist das Risiko zu hoch, dass Arbeitnehmer:innen von einem Tag auf den anderen plötzlich abgeschoben werden.
„Insbesondere Handwerksbetriebe, aber auch andere Branchen klagen seit langem über fehlende Arbeitskräfte und fordern … einfachere Wege in ein Aufenthaltsrecht.“
Insbesondere Handwerksbetriebe, aber auch andere Branchen klagen seit langem über fehlende Arbeitskräfte und fordern unter dem Motto „Ausbildung statt Abschiebung“ einfachere Wege in ein Aufenthaltsrecht. Dem kommen wir mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht nun endlich nach. Somit ist dieser Paradigmenwechsel auch eine effektive Maßnahme gegen den Arbeitskräftemangel, entsprechend begrüßt wurde das Gesetz auch von Unternehmensvertreter:innen. Sowohl Wirtschaft, Wohlfahrt als auch Zivilgesellschaft haben das Gesetzesvorhaben von Beginn an konstruktiv begleitet und bereichert, sodass wir im parlamentarischen Verfahren ihre Hinweise und Vorschläge aufgreifen konnten.
Dadurch haben wir in den Verhandlungen erreicht, das sogenannte Chancen-Jahr, innerhalb dessen geduldete Menschen die Voraussetzungen für ein Bleiberecht erwerben können, von 12 auf 18 Monate zu verlängern. Unternehmen und NGOs hatten zuvor die 12 Monate als zu kurz kritisiert, um die vielfältigen Anforderungen zu erfüllen. Durch die Verlängerung der Frist werden daher mehr Menschen in ein dauerhaftes Bleiberecht gelangen. Außerdem konnten wir erreichen, den Stichtag um zehn Monate auf den 31.10.2022 zu verschieben, denn die Verzögerung in der Gesetzgebung soll sich nicht negativ auf Betroffene auswirken. Durch diese Verschiebung werden nun mehr Menschen vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren als mit der ursprünglich vorgesehenen Regelung.
Und es gibt auch noch weitere Verbesserungen. So werden etwa die Voraussetzungen zu bereits bestehenden Bleiberechtsregelungen im Aufenthaltsrecht ausgeweitet, damit mehr Menschen davon profitieren können. Das Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche wird so verändert, dass die Voraufenthaltszeit von vier auf drei Jahre verkürzt wird. Außerdem gilt diese Regelung nun für Menschen bis zum 27. Lebensjahr, anstatt wie zuvor bis 21. Mit einer Ausnahmeregel für Jugendliche und junge Erwachsene, die aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung die geforderten schulischen Erfolge nicht erbringen können, tragen wir zudem der UN-Behindertenrechtskonvention Rechnung.
„Das Gesetzespaket wird die Lebenssituation vieler Menschen in Deutschland nachhaltig verändern.“
Diese wichtigen Verbesserungen waren jedoch ohne Zugeständnisse nicht zu erreichen. Das betrifft insbesondere die Einführung einer einjährigen Vorduldungszeit. Gut integrierte Jugendliche und junge Volljährige, die seit mindestens drei Jahren gestattet, aber nicht geduldet in Deutschland leben, etwa aufgrund eines langjährigen Asylgerichtsprozesses, können erst nach 12 Monaten in Duldung vom Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche und junge Volljährige unter § 25a profitieren. Das betrifft auch junge Menschen mit Aufenthaltstitel. Dieses Zugeständnis fällt uns besonders schwer, da wir die Kritik der Verbände teilen. Dennoch tragen wir es als Kompromiss mit. In § 25b, dem Bleiberecht für gut integrierte Erwachsene und ihre Familien, und dem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht in § 104c AufenthG wird es eine solche Änderung nicht geben, das konnten wir abwenden. Auch in § 25b konnten wir wichtige Verbesserungen erreichen, indem wir die Voraufenthaltszeiten für gut integrierte Erwachsene von acht auf sechs Jahre und für Familien von sechs auf vier Jahre verkürzen.
Essenziell ist auch die Stärkung der Teilhaberechte von Asylsuchenden, indem wir die Integrations- und Berufssprachkurse grundsätzlich für alle öffnen, unabhängig vom Herkunftsland oder Einreisedatum der jeweiligen Personen. Somit ermöglichen wir Integration und Teilhabe für alle Menschen von Beginn an.
Das Gesetzespaket wird also die Lebenssituation vieler Menschen in Deutschland nachhaltig verändern: Die Lebenssituation von Asylsuchenden und ganz besonders von geduldeten Personen. Da, wo für sie lange nur Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit war, eröffnen sich nun Perspektiven und Möglichkeiten. Wo Türen verschlossen waren, eröffnen sich nun Chancen. Meinung
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