Handys, Pässe und Schlauchboote
Eine Ausstellung zeigt, was Flüchtlinge bei sich tragen – und warum
Handys, Schuhe, Pässe: An vielen Gegenständen hängen Erinnerungen, andere sind für ihre Besitzer lebensnotwendig. Die Schau „Moving Things“ dokumentiert, welche Rolle Dinge bei der Flucht spielen - und erzählt eine andere Geschichte von Migration.
Von Reimar Paul Mittwoch, 02.11.2022, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.05.2023, 15:27 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Koffer, Schuhe, Smartphones, Pässe, Lebensmittel, ein Schlauchboot: Die Ausstellung mit dem etwas sperrigen Namen „Moving Things. Zur Materialität von Flucht und Migration“ zeigt Gegenstände, die Flüchtlinge auf ihren oft beschwerlichen Reisen mitschleppen und nutzen müssen. Am Donnerstagabend wurde sie im neuen Wissenschaftsmuseum „Forum Wissen“ in Göttingen eröffnet.
Die Schau ist Produkt eines dreijährigen Forschungsprojektes im Grenzdurchgangslager Friedland, an dem das Museum Friedland, das Institut für Ethnologie der Universität Göttingen und das Berliner Ausstellungsbüro „Die Exponauten“ beteiligt waren. Weitere Ergebnisse des von der Bundesregierung finanzierten Vorhabens sind mehrere gedruckte Publikationen, eine Internetseite und ein Veranstaltungsangebot.
Welche Rolle Dinge bei der Flucht spielen
„Wir wollen in der Ausstellung zeigen, welche Rolle Dinge bei der Flucht spielen und welche Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen die mitgeführten Gegenstände in sich tragen“, sagt die Göttinger Ethnologie-Professorin Andrea Lauser. „Und wir wollen zeigen, wie über Mensch-Dinge-Beziehungen noch eine andere Geschichte der Migration erzählt werden kann.“ Die Forscherinnen und Forscher hätten sich auch gefragt, was materieller Besitz mit Menschenwürde zu tun habe und was es bedeute, wenn er verloren gehe.
Die Ausstellung behandelt das Thema auf verschiedene Weise, sieben Räume widmen sich in freier Folge bewegten und bewegenden Dingen. Große Röhren aus Pappe, mit Texten beklebt, stehen oder liegen auf dem Boden. „Röhren sind ein Symbol für Infrastruktur“, erläutert Kurator Joachim Baur von den Berliner „Exponauten“ das Konzept. Sie könnten aber auch als Symbol für versperrte Wege gesehen werden.
Ein zehn Meter langes Schlauchboot – ohne Luft
Blickfang der Schau ist ein rund zehn Meter langes Schlauchboot – grau, verschmutzt und ohne Luft. So wie es da liegt, wurde es 2017 von der Hilfsorganisation „Sea-Eye“ auf dem Mittelmeer angetroffen. „Wir wissen nicht, was aus den Menschen geworden ist, die damit unterwegs waren“, sagt Baur. „Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Menschen ertrunken sind.“ Das Boot sei ein „hoch emotionales Exponat und gleichzeitig ein Objekt der Mobilisierung“, so der Ausstellungsmacher.
Info: Die Ausstellung wird bis zum 15. Januar gezeigt. Die Öffnungszeiten sind Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Von Flucht und Flüchtlingen erzählen auch Koffer und Schuhe. Anders als das Schlauchboot werden sie im „Forum Wissen“ nicht gegenständlich, sondern als Fotografien präsentiert. „Der Koffer ist das Generalbild für die Migration“, weiß Joachim Baur. Aufnahmen von Koffern aus Holz, aus Sperrholz, aus abgewetztem Stoff oder Hartschale sind zu besichtigen. Viele stammen aus dem Fundus des Museums Friedland, das benachbarte Grenzdurchgangslager haben seit Ende des Zweiten Weltkriegs rund 4,5 Millionen Menschen durchlaufen.
Manchmal nützen Dokumente, manchmal schaden sie
Die Schuhe auf der Fotowand gegenüber – Stiefel, Schlappen, ausgetretene Sneakers – hatten Geflüchtete an den Füßen, die auf der italienischen Insel Lampedusa ankamen oder zeitweise im sogenannten „Dschungel von Calais“ lebten – einem „wilden“, immer wieder von der französischen Polizei geräumten Zeltlager, die darin hausenden Migranten wollen nach Großbritannien. „Die Schuhe selbst zu zeigen, wäre uns unethisch vorgekommen“, sagt Baur. „Weil die Schuhe ja mit Körpern verbunden sind.“
Auf den ersten Blick etwas unübersichtlich wirkt eine große Landkarte mit eingezeichneten bunten Linien. Sie dokumentieren die verschlungenen Fluchtwege von drei Menschen, die sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machten – und die Wege ihrer Pässe und Ausweispapiere. Denn manche Geflüchtete, erläutert Baur, schickten ihre Pässe „von unterwegs woanders hin, an Freunde oder Kontaktpersonen. Weil sie wissen: Manchmal nützen ihnen die Dokumente, manchmal schaden sie ihnen.“
Ohne Handy „hätte ich die Reise nicht geschafft“
Keine Flucht, kaum ein Flüchtling ohne Smartphone. Die Geräte sind überlebensnotwendig, sie dienen als Telefon, Kamera, zur Navigation, als Foto-, Film und Musikarchiv, als Zugang zum Internet. Der Fotograf Grey Hutton hatte Flüchtlinge gebeten, ihm ihre Handys zu zeigen. Und in ein paar Sätze die Bedeutung dieser Geräte zu schildern.
Huttons Bilder und die Kommentare der Geflüchteten stehen in der Ausstellung nebeneinander. „Ohne das hier hätte ich die Reise nicht geschafft“, wird ein Flüchtling zitiert. „Ich habe es die ganze Zeit benutzt, zu Wasser und zu Land“. Und ein anderer erzählt: „Ich habe das GPS genutzt, um das Boot nach Griechenland zu navigieren, aber nur tagsüber. Nachts hätte die Polizei das Licht sehen können.“ (epd/mig) Feuilleton Leitartikel
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