Miriam Rosenlehner, Migazin, Portrait, Rassismus, Schriftstellerin, Buch
Miriam Rosenlehner © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Rassismus

Die hilflose Demokratie auf kleiner und großer Bühne

Warum wir auf den nächsten rassistischen oder antisemitischen Vorfall vorbereitet sein sollten? Denn es wird wieder passieren.

Von Mittwoch, 24.08.2022, 19:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 25.08.2022, 6:03 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Eine Weiße Frau geht mit ihrer zweijährigen Schwarzen Tochter ein Eis essen. Ein Weißer Mann beobachtet die kleine Familie und kommentiert: „Bekommen Sie nicht noch so ein Kind“.

„Ich hoffe bis heute, dass meine Tochter es bis zu dem Zeitpunkt nicht mitbekommen oder noch

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nicht verstanden hat“, schreibt die schockierte Mutter über die Begebenheit, als sie sie im Internet dokumentiert.

Am Tag der Veröffentlichung dieser Begebenheit gibt es noch mehr Schockierte in Deutschland. Kanzler Scholz tritt mit dem regierenden palästinensischen Präsidenten Abbas vor die Presse und Abbas vergleicht 50 Massaker in palästinensischen Dörfern mit dem Holocaust. Scholz ist nicht bekannt dafür, ein emotionaler Mensch zu sein, aber bei dieser Bemerkung sieht man ihm seine Irritation an.

Später warf man Scholz vor, dass er auf den Vergleich nicht reagiert hatte. Alle nachgeschobenen Distanzierungen wurden als zu spät gewertet.

„Der ganz normale Rassismus auf der kleinen Bühne, der ganz normale Antisemitismus auf der großen.“

Der ganz normale Rassismus auf der kleinen Bühne, der ganz normale Antisemitismus auf der großen. Was beide gemeinsam haben: Die Überraschung und Hilflosigkeit der Zeugen. 500 Jahre Kolonialgeschichte und Rassismus, eine noch längere Geschichte des Antisemitismus und was wir bisher können, wenn es wieder passiert: Hilfloses Schweigen.

Die tiefe Betroffenheit der Unbetroffenen zeigt sich oft in hilflosem Schweigen, aber sie ist dennoch vielsagend. Sie spricht davon, dass wir immer noch gerne so tun, als wären diese Entgleisungen Ausnahmen. Sie sind es nicht.

Die Betroffenheit der Unbetroffenen zeigt außerdem, wie wir uns in diesen Fällen mit uns selbst und unserer Bestürzung beschäftigen, statt gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen.

Die Weiße Mutter hofft, dass ihre Tochter den Rassismus nicht bemerkt. Die Hoffnung ist irrational, denn der Tag wird kommen, an dem das Kind mit dem alltäglichen Rassismus konfrontiert sein wird. Wir leben eben nicht in einer Welt, die normalerweise ohne Rassismus ist, sondern sie ist normalerweise mit Rassismus.

„Wenn wir anerkennen, dass Rassismus und Antisemitismus über die Jahrhunderte längst eine Struktur unserer Gesellschaften geworden sind, wenn wir wissen, dass das keine Einzelfälle sind, können wir uns darauf vorbereiten.“

Was wird passieren, wenn der Tag gekommen ist? Wenn die Hoffnung sich zerschlagen haben wird, dass dieses Schwarze Kind keinen Rassismus erlebt? Steht die Kleine dann ganz alleine da, weil alle anderen zu erschüttert sind, um zu helfen? Und wird sie sich dann um ihre zutiefst schockierte Mutter kümmern müssen, statt um ihre eigenen Verletzungen?

Die Weiße Mutter muss lernen, ihr Kind auf den Rassismus vorzubereiten. Sie muss lernen, unterstützend zu sein, statt schockiert.

Wenn wir anerkennen, dass Rassismus und Antisemitismus über die Jahrhunderte längst eine Struktur unserer Gesellschaften geworden sind, wenn wir wissen, dass das keine Einzelfälle sind, können wir uns darauf vorbereiten:

Den Angriff unterbrechen und beenden

  • Sehen Sie nicht mit einem so hässlichen Blick auf mein schönes Kind.
  • Sprechen Sie uns nicht an. Gehen Sie weiter, sonst zeige ich Sie an.
  • Haben Sie das auch gehört? Der Herr hier hat mein Kind rassistisch beleidigt.

Erste Hilfe für Zielpersonen von Rassismus und Antisemitismus leisten

  • Es tut mir leid, dass du das hören musstest.
  • Wie geht es dir jetzt?
  • Wenn du darüber reden willst, ich bin da.
  • Die Gedanken der Leute sagen etwas über die Leute, nicht über dich.

„Wir alle müssen darauf vorbereitet sein unsere Werte zu verteidigen, wir müssen eine wehrhafte Demokratie werden, statt eine schockierte.“

Rassismus und Antisemitismus müssen auch auf der großen Bühne abgewehrt werden. Darauf vorzubereiten ist die Aufgabe größerer Geister und Politikberater im Politikbetrieb. Ich könnte mir einstweilen, bis diese Vorbereitung endlich beginnt, solche Wendungen vorstellen:

  • Ziehen Sie bitte keine antisemitischen Vergleiche, zumal in diesem hohen Haus.
  • Ich distanziere mich von dem eben Gesagten und möchte bitten, es nicht zu wiederholen.

Wenn Vorbereitung auf Gelegenheit trifft, entsteht Erfolg, so liest man in meinem Lieblingserfolgsratgeber. Erfolgreich mit Rassismus und Antisemitismus umzugehen bedeutet für mich, den Auftrag des Grundgesetzes zur wehrhaften Demokratie zu erfüllen und reagieren zu lernen.

Wir alle müssen darauf vorbereitet sein unsere Werte zu verteidigen, wir müssen eine wehrhafte Demokratie werden, statt eine schockierte.

Denn es wird wieder passieren. Meinung

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