Kein Krieg

Ukrainer und Russen im Klassenzimmer

Viktoria hat russische Wurzeln. Katarina kommt aus der Ukraine und geht seit kurzem in die gleiche Schulklasse am Hildesheimer Andreanum. Dass ihre Heimatländer Krieg gegeneinander führen, trennt die Mädchen nicht - im Gegenteil.

Von Montag, 16.05.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 16.05.2022, 14:55 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Als Lehrer Thorben Trüter die zwölfjährige Katarina fragt, ob sie eine Rolle im Klassenmusical spielen möchte, schaut das ukrainische Mädchen Hilfe suchend zu Viktoria in der ersten Sitzreihe. „Viktoria, kannst Du übersetzen?“ Eine Frage, die Trüter häufiger im Unterricht an das elfjährige Mädchen mit russischen Wurzeln stellt. Viktoria steht von ihrem Platz auf und erklärt Katarina im russischen Flüsterton die Frage. Schließlich reckt Katarina mit einem siegessicheren Lächeln die Daumen nach oben. „Ich habe verstanden.“

Katarina ist eines von bundesweit mehr als 90.000 Kindern, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind und nun an eine deutsche Schule gehen. Allein in Niedersachsen gibt es derzeit knapp 12.000 ukrainische Schülerinnen und Schüler. Die 12-Jährige, die aus Kiew stammt, ist kurz vor den Osterferien in die Klasse 6-M des Hildesheimer Gymnasiums Andreanum gekommen. In der Ukraine hat sie schon etwas Deutsch-Unterricht gehabt. Und oft verständigt sie sich auch schon ohne Übersetzung. Wenn die Mitschüler Witze machen, kichert auch Katarina mit. „Die Kinder hier haben mich sehr freundlich aufgenommen“, sagt sie.

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Am Tag ihrer Ankunft in Deutschland organisierten die Andreanum-Schüler gerade einen Spendenlauf für die Ukraine und sammelten mehr als 55.000 Euro. Damit haben sie unter anderem einen Krankenwagen für ein Krankenhaus in Kiew finanzieren und die Tafeln in der Region unterstützen können, erzählt Schulleiter Dirk Wilkening stolz. Die Solidarität an der evangelischen Schule ist spürbar groß.

Übersetzungs-App im Unterricht

Trüter hat zwei Tage vor Katarinas Aufnahme in die Klasse mit den Schülern Übersetzungskarten gestaltet und laminiert. „Wie geht es Dir?“ und „Tut Dir etwas Weh?“ steht in deutscher und ukrainischer Sprache darauf. Anfangs haben Katarina und ihre ukrainische Mitschülerin diese Karten noch oft in die Hand genommen, nun sind sie kaum noch im Gebrauch. Viktoria ist allerdings nicht immer zum Übersetzen da. „Manchmal nervt das auch ein bisschen, denn auch in den Pausen werde ich ständig gefragt“, sagt sie.

Dann hilft im Unterricht auch eine Übersetzungs-App vom Smartphone. Nur das von Trüter an diesem Tag ausgewählte Gedicht von Mascha Kaleko will sich nicht so recht übersetzen lassen. „Bei Lyrik funktioniert es nicht so gut“, sagt er schmunzelnd. Katarina und ihre ukrainische Mitschülerin bekommen die Aufgabe, selbst ein ukrainisches Frühlingsgedicht in den Unterricht mitzubringen.

Erstmal ankommen

Die insgesamt zehn ukrainischen Schüler am Andreanum sollen möglichst gemeinsam mit russischsprachigen Schülern am Regelunterricht teilnehmen und lernen nur in besonderen Stunden Deutsch als Zweitsprache. Die Kriegs-Erfahrungen der Schüler thematisieren die Lehrer nicht, erstmal gehe es um das Ankommen.

Dass Viktoria russische Wurzeln hat und Katarina aus der Ukraine kommt, ist für die Mädchen nicht wichtig. Über den Krieg sprechen sie untereinander kaum, sagen beide. „Was soll man auch dazu sagen?“, fragt Katarina. Viktoria stört es allerdings schon, dass im Zuge des Ukraine-Konflikts immer öfter Russen diskriminiert werden. „Viele Leute sind nicht für den Krieg, das ist einfach Quatsch. Nicht alle sind wie Putin.“ Katarina sagt schließlich zögerlich und mit ernster Miene, ihr größter Wunsch sei es, dass ihre Familie wieder vereint sei. Sie vermisse ihren Vater. Auch ihr kleiner Dackel „Puma“ sei in Kiew geblieben.

Vermittlung ukrainischer Lehrkräfte

„Eigentlich bräuchten wir für diese Themen einen ukrainischen Sozialpädagogen“, sagt Trüter. Demnächst wird eine ukrainische Lehrerin am Andreanum die Schüler auch mit Unterrichtsstoff aus ihrem Heimatland versorgen. Landesweit vermittelt das niedersächsische Kultusministerium mit einem Online-Portal ukrainische Lehrkräfte. Somit können die Schüler bis zum Ende des ukrainischen Schuljahres Ende Mai am Online-Unterricht der Ukraine teilnehmen. Wie es danach weiter geht, ist ungewiss.

Für Mariia und Mariana aus der 11. Klasse steht allerdings schon fest, dass sie am Andreanum das Abitur machen wollen. Sie haben in Kiew schon lange Deutsch gelernt und helfen viel beim Übersetzen, denn die ukrainischen Schüler sprechen oft nur wenig Englisch und kaum Deutsch. Kürzlich haben die beiden 17-Jährigen mit ihren Klassenkameraden eine Video-Andacht gestaltet, die per Youtube verbreitet wurde. Darin bittet Mariana zum Schluss Gott um Hilfe: „Gib uns Geduld, auf unsere Väter zu warten, auf Frieden und Gerechtigkeit.“ (epd/mig) Aktuell Panorama

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