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Coronavirus © distelAPPArath @ pixabay.com (Lizenz), bearb. MiG

Ethikrat-Bericht

Eklatante Defizite im Umgang mit Migranten in der Pandemie

Migranten zu kurz gekommen, Institutionen zu behäbig, bei Maßnahmen Rechte von Minderheiten missachtet. Der Ethikrat fordert im Rückblick auf die Pandemie, Fehler und Mängel einzugestehen. Er legt Kriterien vor, mit denen es künftig besser laufen soll.

Dienstag, 05.04.2022, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 05.04.2022, 12:45 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Gut zwei Jahre nach dem Beginn der Corona-Pandemie hat der Deutsche Ethikrat Kriterien für den Umgang mit der aktuell noch nicht ausgestandenen und möglichen künftigen Krisen vorgelegt. Die Pandemie habe die ganze Gesellschaft betroffen und ein Stück weit verändert, sagte die Vorsitzende des Ethikrats, Alena Buyx, am Montag in Berlin. Bei der Güterabwägung in einer solchen Krise Fehler zu machen, sei unvermeidlich. Man müsse sie sich eingestehen und langfristig zu einem besseren Umgang kommen, sagte Buyx bei der Vorstellung einer Stellungnahme des Ethikrats, die Kriterien für den Umgang mit Pandemien formuliert.

Buyx sieht selbst vor allem zwei Fehler, die während der Corona-Pandemie gemacht wurden. Zu spät und zu wenig sei in den Blick genommen worden, dass Gruppen auf verschiedene Weise verletzlich seien, sagte die Medizinethikerin. Während am Anfang die medizinische Verletzlichkeit der Älteren im Fokus gestanden habe, sei mit dem Fortdauern der Pandemie die psychische Verletzlichkeit der Jüngeren offenbar geworden. „Da hätten wir uns mehr Ausgleich gewünscht“, sagte Buyx.

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Erhöhte Sterblichkeit bei Arbeitsmigranten

Aber auch im Kontext von Arbeitsmigranten stellt der Ethikrat eklatante Defizite fest. So habe es bei der Pandemieregulierung nicht selten an einem hinreichend entwickelten Sinn dafür gefehlt, „wie problematisch zahlreiche Maßnahmen aus menschenrechtlicher Sicht waren“. Grund‐ und Menschenrechte unter anderem von benachteiligten Gruppen wie Geflüchteten oder auch Arbeitsmigranten seien „unzureichend beachtet oder sogar verletzt“ worden, heißt es in dem Bericht.

Die Lebenssituationen von Arbeitsmigranten und Geflüchteten seien zwar sehr unterschiedlich, eine Gemeinsamkeit besteht jedoch in besonderen Hürden für das Einhalten von Abstandsregeln. Eine Auswertung der Datenlage bis zum März 2021 habe laut Bericht ergeben, dass enge Unterbringung und prekäre Arbeitsverhältnisse ein sehr hohes Infektionsrisiko mit sich bringen, das sich im Fall einer kollektiven Quarantäne‐Anordnung noch erhöhen kann. „In der Folge ist trotz (altersbedingt) geringerer gesundheitlicher Vorbelastungen eine erhöhte Sterblichkeit bei Arbeitsmigranten festzustellen. Dafür dürften neben den Wohn‐ und Lebensbedingungen auch Mängel in der medizinischen Versorgung und im Zugang zu frühzeitiger Versorgung eine Rolle spielen“, so der Ethikrat.

Ungleiche Bildungschancen weiter verstärkt

Nach Ansicht der Biologin und Ethikerin Sigrid Graumann hat sich in der Pandemie zudem gezeigt, wie wenig krisenfest viele Institutionen in Deutschland sind. Im Bildungswesen habe es viele kreative Ideen gegeben, um insbesondere benachteiligten Kindern Unterricht jenseits der manchmal schwer zu realisierenden digitalen Formate zu ermöglichen.

Dennoch habe es in der Pandemie Bildungsverlierer gegeben, insbesondere „sozioökonomisch benachteiligte Eltern, Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund“ sowie in „Geflüchtetenunterkünften“. Asylsuchenden Kindern fehlten die technischen und sonstigen Grundvoraussetzungen für das Lernen außerhalb der Schule. Die bereits vor der Pandemie deutlich erkennbare ungleiche Verteilung der Bildungschancen habe sich so weiter verstärkt, heißt es in dem Bericht. Viele seien zudem ausgebremst worden von der Schulbürokratie. Das sollte künftig anders sein. Auch die Mängel im öffentlichen Gesundheitssystem haben in laut Graumann systemische Mängel offenbart.

In dem rund 160-seitigen Papier mit der Überschrift „Vulnerabilität und Resilienz in der Krise“ nehmen die Experten des Ethikrats rückblickend die Schutzmaßnahmen unter die Lupe und analysieren diese hinsichtlich ihrer Ausgewogenheit und Gerechtigkeit gegenüber verschiedenen Gruppen. Am Ende geben sie zwölf Empfehlungen, die darauf abzielen, Maßnahmen künftig besser abzuwägen, mehr Beteiligte einzubeziehen, Eigenverantwortung und Solidarität zu stärken sowie konsequenter zu kommunizieren.

Mangel an kultursensibler, mehrsprachiger Aufklärung

Dazu gehöre auch die Vermittlung von mehrsprachigen Informationen. Während die Politik ihre Kommunikation in erster Linie über die Presse und die öffentlich‐rechtlichen Radio‐ und Fernsehsender führe, konsumierten Teile der Bevölkerung diese Medien gar nicht. Erst relativ spät habe die Bundesregierung Informationen zum Coronavirus in 23 Sprachen vorgelegt. „Gleichwohl mangelt es immer noch an kultursensibler, mehrsprachiger Aufklärung“, lautet die Kritik.

„Maßnahmen gegen die Pandemie müssen demokratisch legitimiert, ethisch gut begründet und zugleich gesellschaftlich akzeptabel sein“, bilanzierte die Ethikratsvorsitzende Buyx. Das neue und von vielen Seiten immer noch heftig kritisierte Infektionsschutzgesetz, mit dem seit Sonntag viele Schutzmaßnahmen weggefallen sind, wollte sie konkret anhand der vom Ethikrat aufgestellten Kriterien nicht bewerten. Grundsätzlich sei aber schon zu erkennen, dass die Politik dazugelernt habe, sagte sie. Inzwischen gebe es einen breiteren Beteiligungsprozess und Experten würden angehört. Auch dass die Maßnahmen differenzierter werden, sei zu begrüßen, sagte Buyx. (epd/mig) Leitartikel Panorama

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