Hanau, Hessen, Landtag, Untersuchungsausschuss
Angehörige und Freunde der Hanau-Opfer vor dem Hessischen Landtag

Untersuchungsausschuss

Angehörige schildern schlimme Zeit nach Hanauer Anschlag

Quälende Stunden in der Tatnacht, fehlende Hilfsangebote: Mit bewegenden Aussagen von Verwandten und engen Freunden der Mordopfer hat der Landtags-Untersuchungsausschuss zum Anschlag von Hanau seine Aufklärungsarbeit aufgenommen.

Montag, 06.12.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 04.12.2021, 16:20 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Erschütternde Schilderungen von Angehörigen der Opfer haben am Freitag im hessischen Landtag die erste öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses zum rassistischen Anschlag von Hanau geprägt. Die Cousine des damals ermordeten Bulgaren Kaloyan Velkov erzählte den Abgeordneten, wie sie noch kurz vor den tödlichen Schüssen mit dem jungen Familienvater telefonierte und scherzte, der mit seinen Kindern im selben Haus eines Vororts von Hanau wohnte und sie immer mit „Schwester“ anredete.

Vaska Zlateva berichtete von den quälenden Stunden in der Tatnacht, bis sie schließlich Gewissheit über seinen Tod bekam und die schreckliche Nachricht am Morgen mit Hilfe einer Polizistin dessen Mutter überbringen musste. „Ich fühle mich schuldig, weil ich es war, die ihn nach Deutschland eingeladen hat“, sagte die 36-Jährige und rief aus: „Ladet keine Migranten ein, wenn sie hier ermordet werden.“

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Bewegende Schilderungen vor dem Ausschuss

Bei dem Anschlag in der Nacht vom 19. auf den 20. Februar vergangenen Jahres hatte 43-jährige Deutsche Tobias R. in Hanau gezielt neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen. Anschließend tötete er die eigene Mutter und sich selbst.

Der Bruder des Opfers Fatih Saraçoğlu schilderte vor dem Untersuchungsausschuss bewegt, wie er am Morgen nach der Tat mit seinem 79-jährigen Vater von Regensburg nach Hanau fuhr und nach der Todesnachricht zusammenbrach. Aufsehen erregte sein Bericht, wie er erst vor drei Monaten von einem Bestatter in einer großen Kiste Organe seines Bruders überreicht bekam, die damals für Gewebeproben entnommen worden waren. Er lagerte die Organe nachts im Kühlschrank seines Hotelzimmers und brachte sie dann zur Nachbeisetzung in die Türkei. Die Lebensgefährtin des Ermordeten schilderte mit tränenerstickter Stimme, wie sie dessen Handy bekam. Es wurde ihr mit den Worten überreicht: „Wir können nichts mehr für ihn tun.“

Ausschuss soll Fragen beantworten

Der Untersuchungsausschuss war im Sommer eingesetzt worden, um mögliche Versäumnisse von Polizei und Behörden vor und nach dem Anschlag aufzuklären. Am Tatmotiv des offenbar psychisch kranken Täters hat das Bundeskriminalamt nach Auswertung seiner hinterlassenen Vernichtungsphantasien keinen Zweifel. Es spricht von einem „eindeutig rassistischen Weltbild“. Die Einsetzung des Untersuchungsausschusses im Landtag hatten die Oppositionsparteien SPD, FDP und Linke beantragt.

Der Ausschuss soll unter anderem klären, warum der Täter trotz seines paranoiden Verhaltens eine Waffe tragen konnte und warum der Polizeinotruf 110 in der Anschlagsnacht kaum erreichbar war. Dass der Notausgang einer Bar, in die der Täter eindrang, verschlossen war, obwohl dies den zuständigen Behörden schon länger bekannt war, soll ebenfalls Thema sein.

Umgang mit Angehörigen

Auch geht es im Ausschuss um den Umgang mit den Angehörigen der Mordopfer, die ganz bewusst als erste Zeugen ausgewählt wurden. Am 17. und 20. Dezember sollen weitere Angehörige aussagen. Vertreter von Polizei und Behörden sowie der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) sind erst im nächsten Jahr an der Reihe.

Vaska Zlateva schilderte am Freitag ausführlich, wie sie nach dem Anschlag lange vergeblich auf Informationen oder gar Hilfsangebote wartete. Nach dem Anruf eines Arbeitskollegen ihres Cousins, dass es in Hanau einen tödlichen Anschlag gab, sei sie mit dem Taxi in die Stadt gefahren und habe auch vor Ort noch lange gehofft, dass Kaloyan Velkov nicht unter den Toten sei. Die Angehörigen seien schließlich in eine Halle gebracht worden, wo erst nach zwei Stunden am frühen Morgen die Namen der Toten verlesen worden seien. „Er war der vierte oder fünfte, den sie nannten“, sagte Velkovs Cousine.

Kein Einverständnis, keine Infos, keine Hilfe

Auf Fragen der Ausschussmitglieder beklagte die Zeugin, erst nach sechs Tagen weitere Informationen bekommen zu haben, als sie schon fast auf dem Weg zu seiner Beisetzung in Bulgarien war. Auch seien weder sie noch Velkovs Mutter gefragt worden, ob sie mit der Obduktion der Leiche einverstanden seien. Das Gleiche beklagte auch Saraçoğlu über die Autopsie seines Bruders.

Die Hilfe eines Anwalts oder gar materielle Unterstützung seien nicht angeboten worden. Am meisten beschäftige sie aber die Frage, warum ihr toter Cousin erst 25 Minuten nach dem Mord vom Tatort abgeholt worden sei, sagte Zlateva. Vertreter der Opferinitiative begleiteten die Anhörung mit einer Mahnwache vor dem Landtagsgebäude in Wiesbaden. (epd/mig) Leitartikel Panorama

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