Shlomit Tripp, MiGAZIN, Meinung, Juden, Islam, Muslime, Antisemitismus
Shlomit Tripp © privat, Zeichnung: MiG

Bärendienst

Niemand will sich zum „Gil“ machen!

Das Netz tobt: „Trug Gil Ofarim die Davidstern-Kette oder nicht?“ Alles dreht sich um diese Frage. Und wir diskutieren wieder am Problem vorbei: Was läuft schief in unserer Gesellschaft?

Von Mittwoch, 20.10.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 20.10.2021, 15:59 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Was für eine Headline! „Gil Ofarim wegen David-Stern im Westin Hotel beleidigt“. Da vergisst man sein Kaffee und klickt gleich weiter. Ein paar Klicks später gelange ich zum Video, in dem Gil Ofarim vor dem Hoteleingang, den Tränen nahe berichtet, dass man ihn im Hotel aufgefordert habe seine David-Stern-Kette abzulegen. Mit den Worten „Das ist Deutschland 2021“ beendet er seine Video-Botschaft. Seitdem geht das Video viral durch die sozialen Netzwerke.

Ich lese von Demonstrationen, laufenden Polizei-Ermittlungen, eine Headline folgt der anderen und in den sozialen Netzwerken herrscht kollektives Entsetzen. Dann, die große Ernüchterung: Ofarim soll gelogen haben. Kamera-Aufnahmen beweisen, dass er an dem Tag gar keine Davidstern-Kette getragen habe.

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Auch dieser Kaffee wird nicht heiß getrunken. Ich klicke mich durchs Netz. Wieder rattert die Presse. Schließlich muss man bei den Fakten bleiben. Die sozialen Medien laufen heiß. Alles dreht sich um die Frage „Trug Gil die Kette oder nicht?“ Neue oder gleiche Stimmen werden laut: Gil Ofarim habe „dem Kampf gegen den Antisemitismus einen Bärendienst“ erwiesen.

Mein entgleister Blick wandert vom Monitor zur weiteren abgekühlten Kaffee-Tasse. Alles war auch so schon bizarr, aber jetzt wird es richtig absurd. Was meinen die mit „Bärendienst“? Hat jetzt ein Jude den guten Mehrheitsdeutschen ihren Kampf gegen den Antisemitismus versaut? Wer so denkt, kennt die DNA des Antisemitismus nicht. Wer meint man könne Gründe für den Judenhass finden, hat schon verloren.

„Wissen diese meinungsstarken Menschen, wie es sich anfühlt, wenn man als erkennbare jüdische oder auch nicht-mehrheitsdeutsche, darstellende Künstler:in viel durch Deutschland reisen muss?“

Aber gehen wir noch tiefer in die Materie, anstatt darüber zu streiten, ob Gil Ofarim gelogen hat oder nicht! Wissen diese meinungsstarken Menschen, wie es sich anfühlt, wenn man als erkennbare jüdische oder auch nicht-mehrheitsdeutsche, darstellende Künstler:in viel durch Deutschland reisen muss?

Klar, ich wurde noch nie auf der Straße als „Scheißjüdin“ beschimpft, weil mich kein Passant auf der Straße als Jüdin erkennt, aber einige Leser:innen werden sofort verstehen was ich meine, wenn ich von Flügen, Zugfahrten und Hotel-Check-ins schreibe, bei denen die Identität am „fremden“ Namen erkennbar ist.

Manchmal sind es lustige Situationen, wie als ein Rezeptionist, mir unbedingt Falafel bestellen wollte. Manchmal hat man aber auch Erlebnisse, die man eine WTF-Situation nennt. Wie oft schaute der Schaffner etwas zu lange auf mein Zugticket, verlangte den Personalausweis und wies mich wegen meines vielen Gepäcks zurecht? Alles Antisemiten? Sicher nicht, aber hin und wieder passieren Dinge, über die man nicht zu laut redet, weil man sich nicht zum „Gil“ machen will.

„Ich bin keine Statistikerin, aber sicher liege ich nicht ganz falsch, wenn ich sage, dass antisemitische Anfeindungen im Jahr 2021 zu 95 Prozent subtil passieren. Von diesen Situationen will keiner hören. Erst wenn der Davidstern eingepackt werden soll, horcht die Masse auf. „

Ist also Gil Ofarims Ausruf „Das ist Deutschland 2021“ völlig unberechtigt? Ich bin keine Statistikerin, aber sicher liege ich nicht ganz falsch, wenn ich sage, dass antisemitische Anfeindungen im Jahr 2021 zu 95 Prozent subtil passieren. Von diesen Situationen will keiner hören. Erst wenn der Davidstern eingepackt werden soll, horcht die Masse auf.

Oft weiß nicht einmal die diskriminierende Person selbst, dass ihr verrohtes Verhalten gerade antisemitisch ist. Zum Beispiel, als mich ein Anästhesist auf dem OP-Tisch fragte, ob ich Jüdin sei und mir danach die Beatmungsmaske aufs Gesicht drückte. Ich versuchte ihm noch lallend, durch die Maske, meine Familiengeschichte zu erzählen, verlor dann aber leider das Bewusstsein. Ich verarbeite meine Erlebnisse, indem ich die Komik hervorhebe.

Unterhalte ich mich darüber mit Freund:innen mit jüdischen Namen und / oder mit Migrationshintergrund, berichten sie von ähnlichen Erfahrungen. Man hat die Wahl es mit Humor zu nehmen und nicht zu laut darüber zu klagen oder sich zum „Gil“ zu machen. Subtiler Antisemitismus, Philosemitismus, Rassismus oder harmlose Situationskomik? Man kann es oft nicht auseinanderhalten und schweigt deshalb lieber.

Egal ob mit oder ohne Davidstern. Keiner weiß genau, was Gil Ofarim an dem Tag widerfuhr. Vielleicht hat er einiges dazu gedichtet, aber hat er wirklich alles erlogen? Was wissen wir von den WTF-Situationen in Gil Ofarims Leben? Er rechtfertigt seine Performance mit „Es geht um etwas Größeres!“

Wie geht eine kreative, vielleicht auch etwas labile, nicht-mehrheitsdeutsche Person, mit solchen WTF-Situationen um? Nicht jeder hat die Resilienz darüber zu lachen. Möglicherweise hatte Ofarim einfach nur die Nase voll von den subtilen Anfeindungen. Vielleicht produzierte er diese dramatische Performance, um endlich gehört zu werden?

„Die öffentliche Debatte sollte aber weniger darüber gehen, ob Gil die Kette trug oder nicht, sondern, was in unserer Gesellschaft so schiefläuft, dass ein überforderter Künstler zu solchen Handlungen übergeht.“

Sicher ist es strafrechtlich wichtig, die Wahrheit zu ermitteln, denn er erhebt schwere Vorwürfe. Die öffentliche Debatte sollte aber weniger darüber gehen, ob Gil die Kette trug oder nicht, sondern, was in unserer Gesellschaft so schiefläuft, dass ein überforderter Künstler zu solchen Handlungen übergeht. Hier fehlt die nötige Empathie.

Lauthals skandierende Stimmungsmacher helfen uns nicht weiter. Viel wichtiger ist, etwas gegen den verrohten Umgang in diesem Land zu unternehmen, indem man Menschen verschiedenster Berufsgruppen mit diskriminierungskritischen Projekten für die Wahrnehmung und Gefühle anderer Menschen sensibilisiert.

Verrohung und fehlende Sensibilität spielen dem subtilen Antisemitismus und Rassismus in die Hände und erschweren die Einschätzung, ob man gerade diskriminiert wurde oder nicht und so schweigen die Opfer immer mehr.

Gil Ofarmin hat uns keinen „Bärendienst“ erwiesen! Juden und Jüdinnen, erleben immer wieder Antisemitismus, nur sprechen viele nicht öffentlich darüber. Das war vor diesem Fall nicht anders als es danach sein wird. Nur haben wir jetzt einen Grund mehr zum Schweigen: Man möchte sich ja nicht zum „Gil“ machen. Meinung

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  1. Timooo sagt:

    Sie relativieren, beschönigen A – Missbrauch!

  2. Erol Bulut sagt:

    Völlig unsinnige und falsche Diskussion, wenn das Anliegen der Kampf gegen Antisemitismus ist.
    Mal abgesehen von der fast uneingeschränkten kollektiven Denkverweigerung, wie eine Kette „weggepackt“ werden soll, die gar nicht getragen, oder unter dem Hemd weggepackt ist, berührt die Diskussion nicht mal im Ansatz die tatsächlich relevanten Punkte dieses Vorfalls.
    Es sei dahingestellt, was da genau geschehen ist. Wer daran glauben will, dass die Sachsen alle Nazis sind, bei denen Rezeptionisten die Erlaubnis haben sollen, Juden zu schikanieren, wird sich davon genauso wenig abbringen lassen, wie vom Glauben, dass es irgendeine Art Selbstvverteidigung sei, wenn Israel Völkerrechtsverbrechen an den Palästinensern begeht.

    Natürlich werden Juden hier in Deutschland von irgendwem gehasst, wie es anderen Volksgruppen und POC auch passiert. Doch im Gegensatz zu anderen rassistisch ungeliebten werden Juden nicht diskriminiert, eben weil denen genau das droht, was dem Hotelmitarbeiter passiert ist, trotzdem er wahrscheinlich sich nichts zu Schulden kommen lassen hat.

    Gewöhnlich wird nichts öffentlich hinterfragt, wenn die Antisemitismusbeschuldigung kommt, so dass sogar in Deutschland Juden als Antisemiten verleumdet werden können, so bescheuert das auch begründet wird. Denn wer hinterfragt, dem fliegen gewöhnlich die Antisemitismusbeschuldigungen ebenfalls zu.

    Und natürlich, wenn es so einfach ist, mit einer Antisemitismus- 7Rassismusunterstellung Diskussion zu verhindern und sich zu bevorteilen, passiert das auch. Von Juden und natürlich auch anderen, die sich oder politisch motiviert Bevorteilung anstreben.

    Aber Ofarim wegen Missbrauch anklagen zu wollen, wo sogar im Bundestag Hemmungslos die Lüge verbreitet wird, dass BDS antisemitisch sei, weshalb reputierteste israelisch jüdische Wissenschaftler sich genötigt fühlen, diese Lüge anzusprechen und anzuklagen
    https://archive.org/details/2019-06-03_Aufruf-von-240-juedischen-u-israelischen-Wissenschaftlern-an-Bundesregierung-zu-BDS/mode/2up
    während Deutsche Medien und Politiker mit dieser Lüge weiter gegen Menschen hetzen, inbesondere auch Juden, ist ein wenig albern.

    Im Gegensatz zu anderem Rassimus hassen Antisemiten Juden im Wesentlichen, weil sie eine Bevorteilung, bzw.eine „Kontrolle“ über Politik & Medien unterstellen. Und wo Hass ist, wird auch schikaniert. Dass kann auch einem Deutschen beim Dönerkauf passieren, wenn er für sich eine Sonderbehandlung verlangt, wie wohl bei Ofarim im Hotel zu vermuten ist. Man kann auch wie Ofarim flennen, oder so tun, wenn jamand nicht nett ist, aber daruim geht es beim Thema Antisemitismus nicht. Es geht darum, dass idotische hassgetriebene Rassisten nicht in eine Synagoge stürmen, um Juden zu ermorden, weil sie durch die Bevorteilungen von Juden glauben, gegen die Untersdrücker der Freiheit zu kämpfen.

    Wenn man Antisemitismus bekämpfen will, muss man Juden wie jeden anderen behandeln, anstatt zu privilegieren! Wenn ein Ofarim in die Kamaras heult, dass er irgenwo nicht reinkomme, muss man an die vielen POC denken, die edes Wochenende irgendwo abgewiesen werden, denen keine Träne nachgeweint wird. Und vor allem muss man die unsägliche Instrumentalisierung der Antisemitismusverleumdungen im Bundestag unterbinden, auch die viele Zensur in der Presse, wenn es um die Verbrechen Israels geht. Ofarim ist, wenn überhaupt, nur ein ganz kleines Licht in dem Missbrauch von Antisemitismusbeschuldigungen.

  3. Erol Bulut sagt:

    „Juden und Jüdinnen, erleben immer wieder Antisemitismus, nur sprechen viele nicht öffentlich darüber. Das war vor diesem Fall nicht anders als es danach sein wird. Nur haben wir jetzt einen Grund mehr zum Schweigen: Man möchte sich ja nicht zum „Gil“ machen.“

    Was soll das heißen, zum „Gil“ machen?
    Rassismus, oder Ablehnung und Schikane erleben viele. POC, Dicke, Margere, Veganer, Fleischesser, ….. Und manche sind etwas paranoid und glauben nur, wegen irgendwas schikaniert zu werden, obwohl der Grund ein anderer ist.
    Möchte die Autorin sagen, dass nun weniger Antisemitismus angeklagt würde, weil es glücklicherweise Kameras und Zeugen bei der mutmaßlichen Antisemitismusunterstellung von Gil gab?
    Übersieht sie nicht, wie viele trotzdem an dem wahrscheinlichen Rufmord und Hetze gegen den Mitarbeiter betreiligt waren und dass das Hotel gezwungenermaßen ein Anwaltsbüro einschalten musste, um sich gegen mutmaßliche Verleumdung zu wehren?

    Vielleicht sollte die Autorin auch mal einen Gedanken daran verwenden, wie hier in Deutschland reagiert wird, wenn Antisemitismusbeschuldigungen fallen. Denn die Hetze und das fehlende Mitgefühl für den Hotelangestellten, der wahrscheinlich basierend auf Lügen und ganz ohne Beweise beschuldigt wird, auch hier bei der Autorin, zeigt wo das echte Problem im Kampf gegen Antisemitismus liegt. Während bei Moslemhassanklagen kaum ein Schulterzucken der Deutschen erkennbar ist, werden des Antisemitismus beschuldigte entlassen und diskriminiert. Und dieses Schwert wird so irrational geschwungen, unbefragt gelassen, dass sogar Juden mittlerweile als Antisemiten verfolgt werden, wenn sie die Verbrechen Israels nicht absegnen wollen.

    Ja, es ist besser, wenn Juden nicht den Gil machen, und nicht mit albernen Geschichten gekränkte Eitelkeit zu verarbeiten suchen, damit bereitwillig die Zerstörung von Existenzen anstreben, und Antisemitismus nur da anklagen, wo tatsächlich Diskriminierung nachzuweisen oder obkjektiv erklärbar ist.

  4. Magdalena Weileder sagt:

    Ich finde den Beitrag deplaziert. Ist die Kette von selbst davongeschwebt? Wohl kaum. Da hat möglicherweise jemand seinen Minderheitenstatus benutzt, um auf sich aufmerksam zu machen. Soll ja vorkommen. Dumm ist das nur, wenn diese Minderheit ohnehin schon angefeindet wird. Falls das alles erlogen ist, soll sich Ofarim schämen. Unnützer und leicht fehlinterpretierbarer Kommentar. Ich mag solche Leute wie Ofarim nicht, gleich, was er konkret getan hat. Hier wird wahrscheinlich etwas beschönigt.