Flughafen, Menschen, Einwanderung, Migration
Flughafen (Symbolfoto) © Skitterphoto @ pixabay.com (Lizenz), bearb. MiG

Wahlcheck Migrationspolitik

Parteien betonen Fluchtmigration und verkennen Chancen klassischer Einwanderung

In den Wahlprogrammen der Parteien herrscht ein deutliches Zerrbild der Wirklichkeit: Flucht und Asyl werden überbetont, die klassische Einwanderung, die den Großteil der Einwanderung ausmacht, vernachlässigt. Das geht aus einer IfW-Auswertung hervor. Einig sind sich alle Parteien nur in einem Punkt: Verhinderung von Fluchtmigration.

Donnerstag, 09.09.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 20.12.2021, 13:13 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

In den Wahlprogrammen der Parteien werden die Themen Flucht und Asyl durchweg überbetont, dabei machen sie nur knapp über 10 Prozent der Zuwanderung nach Deutschland aus. Unspezifisch und ohne konkrete Konzepte in ihren Programmen versäumen die Parteien die für Deutschland wichtigen Gestaltungsmöglichkeiten einer gezielten Arbeits- und Bildungszuwanderung. Dies ergibt eine Auswertung der Wahlprogramme durch Tobias Heidland und Finja Krüger, die am Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW) zu Migration forschen.

„Die Wahlprogramme der Parteien greifen deutlich zu kurz. Natürlich ist Fluchtmigration ein wichtiges Thema – gerade jetzt im Kontext der dramatischen Entwicklungen in Afghanistan –, doch für die Zukunft des Arbeitsmarkts und unseres Rentensystems sind stattdessen die Arbeits- und Bildungsmigration maßgebend“, sagt Tobias Heidland, Direktor des Forschungszentrums Internationale Entwicklung am IfW.

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Was Deutschland von der nächsten Regierung brauche, sei eine Politik, die auf die Zukunft ausgerichtet sei und sich dabei mit allen Arten der Einwanderung befasse: Arbeits- und Bildungsmigration, Familienmigration, Flucht und Asyl. Heidland zufolge machte Fluchtmigration in den letzten Jahren nur einen geringen Anteil der Einwanderung aus und sollte daher nicht überbetont werden. „Migration kann, wenn sie gezielt gestaltet wird, sehr positive Wirkungen für die langfristige wirtschaftliche Situation der Bevölkerung haben. Die Wahlprogramme sind jedoch teils so stark auf Verhinderung von Migration fokussiert, dass es den Anschein hat, als wären sich die Parteien dieser Chance gar nicht bewusst.“

Schwerpunkt bei Flucht und Asyl

Die Wahlprogramme aller Parteien beschäftigen sich der Auswertung zufolge beim Thema Migration zu mindestens 75 Prozent mit Flucht und Asyl. Dabei machten Asyl-Erstantragstellende nur 10,6 Prozent der 2019 nach Deutschland gekommenen Migranten aus. 2020 war ihr Anteil aufgrund der Corona-Pandemie sogar noch niedriger.

Die anderen drei Migrationsarten – Familienmigration, Bildungs- und Arbeitsmigration – machten zusammen mehr als die Hälfte der Einwanderung aus dem Nicht-EU-Ausland nach Deutschland aus. „Durch die Überbetonung von Fluchtmigration vermitteln die Parteien ein Zerrbild, das Migration mit Flucht gleichsetzt, und bestärken damit eine fehlerhafte Annahme, die sich auch in der Bevölkerung wiederfindet“, so Heidland und Krüger. Dagegen vermissen die Forscher:innen spezifische Aussagen und konkrete Vorschläge in einigen der Wahlprogramme.

Migration Chance oder Übel

Ein besonders charakteristischer Unterschied zwischen den Programmen sei der Blick auf Migration als Chance für Deutschland. „Dies ist besonders stark bei der FDP ausgeprägt, während die Programme von CDU und AfD Verhinderung und Abschreckung betonen“, erklären die Heidland und Krüger.

Dabei sei zum Beispiel das Potenzial für eine bessere Adressierung des Fachkräftemangels enorm: 2019 waren von 1,35 Millionen insgesamt Eingewanderten nur 64.000 Arbeitsmigranten aus dem Nicht-EU-Ausland. Steigender Wohlstand und die Alterung der Bevölkerung im Rest Europas würden perspektivisch dazu führen, dass die Migration aus anderen EU-Ländern zurückgeht. Eine positive Bruttozuwanderung hänge somit zukünftig umso mehr von der Gestaltung von Arbeits- und Bildungsmigration aus dem Nicht-EU-Ausland ab.

Handlungsempfehlung: Punktesystem

Zu den konkreten Handlungsempfehlungen der beiden Forschenden gehört ein punktebasiertes Verfahren für die Steuerung der Arbeitsmigration nach dem Vorbild Kanda, um das hochkomplexe deutsche Einwanderungsrecht „effizienter und transparenter“ zu gestalten: Danach erhalten Personen mit relevanten Fähigkeiten und guter Integrationsperspektive entsprechend ihrer Qualifikationen Punkte und können so bei der Visumsvergabe bevorzugt werden. Ein solches Verfahren vereinfache es, Fachkräfte nach Deutschland zu locken und sei in der Lage, diese entlang von Kriterien wie Integrationsfähigkeit und -willigkeit auszuwählen.

Einigkeit in der Flüchtlingspolitik

Während FDP und Grüne ein punktebasiertes Migrationssystem befürworten, bleiben die Programme der CDU und SPD vage und ohne nennenswerte konkrete Vorschläge. Die AfD bestreitet, dass in Deutschland überhaupt Fachkräftemangel bestehe. Die Linke wiederum setzt auf die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Qualifizierungen in Deutschland anstatt auf gezielte Zuwanderungen.

„Wirklich einig sind sich die Parteien nur bei der Notwendigkeit, Fluchtmigration zu verhindern – auch wenn die Ansätze dabei sehr unterschiedlich sind und von einem Fokus auf der Bekämpfung von Fluchtursachen bis zu ausgeweiteten Abschiebungen zurück in die Herkunftsländer reichen“, so Krüger.

Expertin für positive Ansätze

Die Politik sollte der Expertin zufolge generell mehr auf positive Anreize setzen. „Bisher gibt es für junge Menschen von außerhalb der EU kaum legale Möglichkeiten, in Deutschland zu arbeiten. Dabei brauchen wir in vielen Bereichen, wie aktuell insbesondere in der Gastronomie zu sehen ist, dringend Personal, sofern die Preise für Dienstleistungen wie Restaurantbesuche nicht deutlich steigen sollen“, so die Forscherin weiter.

Krüger schlägt Ausbildungspartnerschaften vor, bei denen EU-Länder die Ausbildung und den Spracherwerb im Herkunftsland finanzieren. Das könnten in der Zukunft helfen, Zuwanderung aktiv und entsprechend der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anforderungen zu gestalten. (mig) Leitartikel Politik

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