Interview
Giorgina Kazungu-Haß: „Hey, Deutschland, ich habe etwas zu bieten“
Weiblich, kenianische Wurzeln: Statistisch gesehen waren die Chancen für Giorgina Kazungu-Haß, jemals in einem Parlament zu sitzen, gering. Vor etwa fünf Jahren zog die Tochter eines kenianischen Vaters und einer deutschen Mutter dennoch in den Landtag von Rheinland-Pfalz ein. Aktuell ist sie integrations- und religionspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion und Vorsitzende des Bildungsausschusses. Im Interview erzählt sie von ihrem Weg in die Politik und davon, wie sie Türen für ihre Nachfolgerinnen offenhalten will.
Von Jana-Sophie Brüntjen Dienstag, 07.09.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 06.09.2021, 14:24 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Frau Kazungu-Haß, wie schwer hat man es in der Politik, wenn man erkennbar einen Migrationshintergrund hat?
Giorgina Es ist auf jeden Fall schwieriger, weil man sich mehrfach beweisen muss. Gerade Menschen in der ersten Generation haben das Gefühl, immer dankbar sein zu müssen. Bei ihnen kommen Ängste auf: ‚Ich bin jetzt schon eingebürgert worden, darf ich überhaupt verlangen, dass man mich wählt? Gehöre ich schon dazu, habe ich schon genug geleistet, um hier eine Führungsposition in Anspruch zu nehmen?‘ Diese Menschen wollen auf keinen Fall unangenehm auffallen oder irgendetwas falsch machen. In der zweiten Generation fehlen dann vielen die Erfahrungen der Eltern oder anderer Verwandte, die sie zum Beispiel zur ersten Ortsvereinssitzung mitnehmen.
Wie war es bei Ihnen?
Ich wurde in Deutschland geboren und bin hier zur Schule gegangen. Ich konnte also die „Codes“, das Verhaltens- und Wertesystem in Deutschland lernen. Außerdem war ich Juso-Vorsitzende in Rheinland-Pfalz, und im Jugendverband hat es keine Rolle gespielt, ob man einen Migrationshintergrund hat. Dadurch habe ich sehr viele Chancen bekommen.
Wenn es im Jugendverband noch egal ist, ob jemand eine Einwanderungsgeschichte hat, wieso finden sich nur so wenige dieser Menschen in Spitzenpositionen der Politik?
„Ich denke, dass sich das Dankbarkeitsdenken der ersten Generation weiter bis zu ihren Kindern und Enkeln durchzieht. Aber in der Politik geht es nicht um Dankbarkeit.“
Das kann ich nicht genau sagen. Wir haben in der Partei heute sehr viele junge, starke und kluge Frauen mit Einwanderungsgeschichte aus der zweiten und dritten Generation. Ich und viele andere Politikerinnen versuchen jetzt, die Tür offenzuhalten, aber durchgehen müssen sie selbst. Ich denke, dass sich das Dankbarkeitsdenken der ersten Generation weiter bis zu ihren Kindern und Enkeln durchzieht. Aber in der Politik geht es nicht um Dankbarkeit. In der Politik geht es um Durchsetzungskraft. Da muss man nicht warten, bis jemand sagt: ‚Jetzt darfst du auch mal.‘ Sondern man muss sagen: ‚ey, Deutschland, ich habe etwas zu bieten.‘
Es liegt also nicht daran, dass sich die eigene Partei Menschen mit Migrationsgeschichte entgegenstellt?*
Ich habe nie mitbekommen, dass jemand daran gehindert wurde, sich aufzustellen. Es hat sich nur niemand getraut zu kandidieren. Ich würde mich freuen, wenn es noch eine Person wie mich im Landtag geben würde und würde mir wünschen, dass wir als Partei durchlässiger wären.
Weil die SPD von mehr Diversität profitieren könnte?
„Parteien dürfen nicht jedes Mitglied mit Migrationshintergrund zum Platzhalter für die unerfüllten Träume von Migration und Integration machen.“
Die Frage der Repräsentation, also die Vertretung aller Bürger, taugt nicht für parteipolitische Auseinandersetzungen, und es hilft nicht, im Wahlkampf zu sagen: ‚Wir haben die diverseste Liste‘ oder ‚Wir sind die diverseste Partei‘. Vielfalt ist eine demokratie- und gesellschaftstheoretische Frage und Aufgabe, und die muss man als Politik gemeinsam bewältigen. Parteien dürfen nicht jedes Mitglied mit Migrationshintergrund zum Platzhalter für die unerfüllten Träume von Migration und Integration machen. Wir sind immer noch Individuen und haben bestimmte Kompetenzen und andere eben nicht.
Wird von Politikerinnen und Politikern mit Einwanderungsgeschichte erwartet, dass sie sich alle für Migrationspolitik interessieren?
Ich glaube, viele würden sich dieses Themas annehmen, wenn es nicht so stereotyp wäre. Außerdem ist es ein sehr spezielles Feld. Es gibt schließlich verschiedene Einwanderungsgründe. Da werden dann Flüchtlinge in diesem Integrationstopf mit Leuten zusammengeworfen, die in der ersten, zweiten oder dritten Generation hier leben. Aber nur weil eine Person aus einer dieser Teilgruppen kommt, hat sie nicht unbedingt die Kompetenz, die anderen Teilgruppen zu verstehen.
Welche Folgen hat es, wenn Menschen mit Migrationshintergrund mit ihren Perspektiven in den Parlamenten fehlen?
Es wird schwierig, gute Politik zu machen, die auf Integration und Inklusion setzt. Aktuell hat die Politik oft etwas Paternalistisches, weil zwar über Leute und über ihre Bedürfnisse nachgedacht wird, sie aber gar nicht gefragt werden. Das sieht man beim Impfen sehr gut. Da wird vermutet, dass Menschen sich nicht impfen lassen, weil sie kein Deutsch sprechen. Vielleicht sind diese Menschen aber auch einfach Impfgegner oder konsumieren Medien aus ihren Heimatländern, in denen die Impfbereitschaft wiederum ganz unterschiedlich ist. So fehlt der Blick dafür, was tatsächlich getan werden müsste, um die Impfbereitschaft zu steigern.
Freiwilligkeit scheint mit Blick auf den Mangel an Vielfalt in den Parlamenten nicht zu reichen. Was halten sie von Quoten?
„Wenn ich jetzt nur an die Repräsentation von Menschen mit Einwanderungsgeschichte denke, ist in einem Parlament, in dem nicht mindestens zehn Prozent sitzen, Luft nach oben.“
Ich habe immer auf der Frauenquote bestanden, auch weil Unterrepräsentation intersektional sehr stark zusammenhängt. Solange wir dieses grundsätzliche 50-50-Problem nicht lösen, werden wir auch die anderen Probleme bei der Diversität nicht lösen. Aber ich würde trotzdem mehr nach Wegen suchen, wie Menschen ihre eigene Motivation gut nutzen können. Da sind Modelle wie die Frauenförderung im öffentlichen Dienst sehr erfolgreich gewesen.
Und das lässt sich auch auf den Migrationshintergrund ausweiten?
Genau. Auch da sehe ich vor allem Möglichkeiten im öffentlichen Dienst. Repräsentation betrifft nicht nur die Menschen, die in den Parlamenten sitzen. Für mich ist es zum Beispiel schön zu sehen: Da sind Polizisten, die eine Demo begleiten, und die sehen alle unterschiedlich aus. Außerdem haben Angestellte im öffentlichen Dienst ein ganz anderes Selbstbewusstsein, wenn sie sich bei einem Ortsverein für eine Kommunalwahl bewerben, weil sie eben schon für dieses Land arbeiten. Das war bei mir auch so. Als ich in die Schulleitung kam, war ich schon selbstbewusst, aber es war gut zu merken, dass ich akzeptiert wurde. Dass man nicht angefeindet wird und Leute einen ständig in der eigenen Autorität in Frage stellen.
Was wäre für Sie eine ideale Repräsentation?
Wenn ich jetzt nur an die Repräsentation von Menschen mit Einwanderungsgeschichte denke, ist in einem Parlament, in dem nicht mindestens zehn Prozent sitzen, Luft nach oben. Allein, weil man an zehn Prozent der Parlamentarier nicht mehr vorbeischauen kann. (epd/mig) Leitartikel Politik
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