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Afghanische Mädchen warten auf Hilfe © isafmedia auf flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Taliban in Kabul

Afghanistan – „Das ist gescheitert“

Die Taliban haben offenbar die Macht in Afghanistan übernommen. Am Sonntag drangen sie bis nach Kabul vor. Präsident Ghani hat Medienberichten zufolge das Land verlassen. Derweil harren afghanische Ortskräfte weiter im Land aus. Maas verspricht Evakuierung. Es hagelt Kritik.

Montag, 16.08.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 15.08.2021, 20:25 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Lage in Afghanistan spitzt sich immer weiter zu. Während die Taliban am Sonntag bis nach Kabul vorrückten, herrschte in der Bevölkerung Panik. Präsident Aschraf Ghani soll angesichts der Situation Medienberichten zufolge das Land verlassen haben. In einer Erklärung versicherten die Taliban, ihre Kämpfer würden die Vier-Millionen-Metropole nicht mit Gewalt einnehmen und den Menschen eine Ausreise ermöglichen. Das Personal der deutschen Botschaft wurde zum militärischen Teil des Flughafens in Kabul verlegt, wie Außenminister Heiko Maas (SPD) bei Twitter mitteilte. Am Sonntagnachmittag sollte nach seinen Angaben der Krisenstab der Bundesregierung zusammenkommen.

Innerhalb kürzester Zeit hatten die Taliban alle großen Städte unter ihre Kontrolle gebracht, oftmals ohne Gegenwehr. Derzeit seien Verhandlungen über einen friedlichen Machtwechsel im Gange, teilten die Aufständischen in den sozialen Netzwerken mit. Sie kontrollieren inzwischen fast alle der 34 Provinzen.

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Präsident Ghani verlässt Afghanistan

Das afghanische Präsidialamt rief die Einwohner zu Ruhe und Besonnenheit auf. Interimsinnenminister Abdul Sattar Mirzakwal sagte laut dem afghanischen TV-Sender Tolo, die Hauptstadt werde nicht angegriffen werden und eine Machtübergabe ohne Gewalt vonstatten gehen. Die Sicherheitskräfte würden die Sicherheit der Stadt gewährleisten. Gleichzeitig wurden in der Hauptstadt Regierungsgebäude geräumt.

Nach Angaben desselben Senders hat Ghani am Sonntag Afghanistan verlassen. Der 72-Jährige soll die Regierungsgeschäfte an den amtierenden Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi übergeben haben. Berichten zufolge sollen Ghani und das Kernteam aus Kabul nach Tadschikistan geflogen sein. Einen offiziellen Rücktritt Ghanis gab es nicht. Nach Berichten über dessen Ausreise sagte ein Taliban-Sprecher dem Sender, dass ihre Kämpfer den Auftrag erhalten hätten, Kabul zu betreten.

Länder evakuieren Botschaften

Mehrere Länder begannen mit der Evakuierung ihrer Botschaften oder bereiteten diese vor. Auch Deutschland will das Personal der diplomatischen Vertretung und andere Staatsbürgerinnen und -bürger schnellstmöglich ausfliegen. Maas zufolge sollte es am Sonntag auch um die Ausreise anderer gefährdeter Personen gehen. Angesichts der dramatischen Lage in Afghanistan war die Kritik am Umgang mit den Ortskräften, die für die Bundeswehr im Einsatz waren, lauter geworden.

Politiker und Politikerinnen verschiedener Parteien äußerten sich entsetzt über die Gefahr, in der die Helferinnen und Helfer des Bundeswehreinsatzes schwebten. „Viel zu lange hat die Bundesregierung die Augen vor der Realität verschlossen“, kritisierte die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, in der „Süddeutschen Zeitung“. Das räche sich jetzt. Die Regierung müsse nun alles unternehmen, um Leben zu retten, auch mit Hilfe der Bundeswehr. Bedroht seien neben Botschaftsangehörigen und Ortskräften auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Frauenrechtlerinnen.

Linke: Umgang mit Ortskräften „verantwortungslos“

Im Juni hatten die Regierungsparteien SPD, CDU und CSU einen Antrag der Grünen für eine weitreichende Aufnahme afghanischer Ortkräfte und ihrer Familienangehörigen abgelehnt. Durch die Taliban sind diese Menschen aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit westlichen Institutionen und Organisationen gefährdet.

Die Linken-Politikerin Heike Hänsel erklärte, die Bundesregierung behindere seit Juni die Ausreise afghanischer Ortskräfte durch bürokratische Hürden: „Nun verzögert sie erneut eine schnelle Evakuierung durch zivile Charterflüge und will stattdessen auf die Bundeswehr warten. Verantwortungslos!“

Maas: Bundeswehr unterstützt Evakuierung

Am Sonntagabend erklärte Außenminister Heiko Mass (SPD) in Berlin, Deutsche Staatsangehörige und ehemalige Helfer der deutschen Streitkräfte sollen möglichst in den kommenden Tagen mit Unterstützung der Bundeswehr aus Afghanistan ausgeflogen werden. „Wir setzen jetzt alles daran, unseren Staatsangehörigen und unseren ehemaligen Ortskräften eine Ausreise in den kommenden Tagen zu ermöglichen“, sagte Maas. Zugleich ergänzte er: „Die Umstände, unter denen das stattfinden kann, sind aber derzeit schwer vorherzusehen.“ In der Nacht zu Montag sollen nach seinen Angaben Flugzeuge der Bundeswehr nach Afghanistan aufbrechen, um die Evakuierungsmaßnahmen zu unterstützen.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), forderte unterdessen ebenfalls eine schnelle und sichere Evakuierung der Ortskräfte. „Was jetzt unmittelbar zu tun ist, ist klar: Die Bundesregierung muss jeden Menschen, gegenüber dem Deutschland eine Schutzverantwortung hat, sofort und sicher nach Deutschland bringen“, sagte er der „Rheinischen Post“.

FDP: Bundesregierung „planlos“

Die Bundesregierung wirke planlos, kritisierte der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Es gebe Schuldzuweisungen zwischen den Ministerien. Dabei sei es sowohl „eine moralische Verpflichtung als auch im nationalen Interesse“, sich um die Ortskräfte zu kümmern, sagte er ebenfalls der „Rheinischen Post“.

Auch der CDU-Außenpolitik-Experte Ruprecht Polenz kritisierte die Bundesregierung scharf. Es sei für ihn völlig unverständlich, warum die Fürsorge für die Ortskräfte und ihre Familienangehörigen einschließlich Flug, Visa und erster Unterkunft in Deutschland „offenkundig nicht integraler Bestandteil des Rückzugsplans war“, erklärte er auf Twitter. Die letzten deutschen Soldaten hatten Afghanistan im Juni verlassen.

Medienhäuser fordern Visa-Notprogramm

Am Sonntag wandten sich zudem deutsche Medienhäuser, darunter „Die Zeit“, der „Spiegel“ und die Deutsche Welle in einem offenen Brief an die Bundesregierung, weil sie um das Leben ihrer afghanischen Kollegen und Kolleginnen fürchten, die beispielsweise als Übersetzer oder freie Mitarbeiter die Berichterstattung unterstützt haben. Sie forderten ein Visa-Notprogramm.

Die USA und die Nato hatten nach fast 20 Jahren im Mai mit dem Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan begonnen. Im Juni verließen die letzten deutschen Soldaten das Land. Seitdem brachten die Taliban zahlreiche Gebiete unter ihre Kontrolle, ohne dass die von den internationalen Truppen ausgebildete Armee sie abwehren konnte. Hunderttausende Familien waren in den vergangenen Tagen aus den eroberten Regionen nach Kabul geflohen. Die UN hatten die Nachbarländer Afghanistans aufgerufen, ihre Grenzen für Flüchtende zu öffnen.

Seehofer: „Das ist gescheitert“

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte angesichts der Lage, dass der Zweck des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan verfehlt wurde. Ziel sei es gewesen, die Lebensbedingungen für die Menschen zu verbessern und Stabilität in das Land zu bringen, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“. „Heute muss man leider festhalten: Das ist gescheitert“, ergänzte er. Dennoch sei die Entscheidung dafür im Jahr 2001 richtig gewesen. Sein Ministerium hielt zuletzt noch bis Donnerstagmittag an Abschiebungen nach Afghanistan fest.

Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), forderte unterdessen eine Verschiebung der für den 31. August geplanten Gedenkfeier zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. „Feierlichkeiten und ein würdiges Gedenken sind angesichts der dramatischen Entwicklungen und dem Vormarsch der Taliban derzeit nicht möglich und sollten verschoben werden“, sagte Högl der „Augsburger Allgemeinen“. (epd/mig) Leitartikel Politik

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