Taliban-Offensive
Deutschland setzt Abschiebungen nach Afghanistan aus
In Afghanistan hat die Armee dem Vormarsch der radikal-islamischen Taliban wenig entgegenzusetzen. Nun verhängt Deutschland aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage einen Abschiebestopp.
Donnerstag, 12.08.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 12.08.2021, 9:25 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Angesichts der Taliban-Offensive schiebt Deutschland vorerst keine Afghanen mehr ab. Innenminister Horst Seehofer (CSU) habe aufgrund der aktuellen Sicherheitslage entschieden, Rückführungen nach Afghanistan zunächst auszusetzen, teilte das Bundesinnenministerium am Mittwoch mit. „Sobald es die Lage zulässt, werden Straftäter und Gefährder wieder nach Afghanistan abgeschoben“, erklärte Seehofer. Die Taliban erobern zur Zeit immer mehr Territorium am Hindukusch.
Anfang vergangener Woche war ein Abschiebeflug aus München mit sechs Männern an Bord wegen zweier Anschläge in Kabul abgebrochen worden. Das Innenministerium hatte angekündigt, die Abschiebung rasch nachzuholen. Zuletzt hatte Deutschland vor allem Straftäter und Gefährder nach Afghanistan zurückgeschickt. Seit Beginn des Jahres wurden 167 Personen nach Afghanistan zurückgeführt, wie eine Sprecherin des Innenministeriums dem „Evangelischen Pressedienst“ mitteilte.
Die afghanische Regierung hatte die EU-Mitgliedsstaaten bereits Mitte Juli angesichts der sich verschlechternden Lage um einen Abschiebestopp gebeten. Mehrere europäische Länder, darunter Schweden und Norwegen, verzichten schon länger auf Rückführungen nach Afghanistan. Anfang August hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Abschiebung aus Österreich aufgrund der Sicherheitslage in Afghanistan gestoppt. Dennoch hielt das Bundesinnenministerium bis zuletzt an den Rückführungen fest.
Offensive seit Abzug internationaler Truppen
Seit dem Abzug nahezu aller internationaler Truppen und dem Beginn einer Taliban-Offensive Anfang Mai erobert die radikale Miliz derzeit immer mehr Gebiete. Am Mittwoch fiel mit Badachschan im Nordosten des Landes die neunte der insgesamt 34 Provinzen in die Hände der Taliban, wie der TV-Sender Tolo News berichtete. Mit Ausnahme der Provinz Balkh ist der Norden des Landes unter Taliban-Herrschaft. In Kundus, wo früher die Bundeswehr stationiert war, nahmen die Taliban den Flughafen der gleichnamigen Provinzhauptstadt ein.
Beobachter gehen davon aus, dass die afghanische Armee den Taliban nicht mehr viel entgegensetzen kann. Der Aufbau effektiver Streitkräfte durch die internationale Militärallianz sei „total fehlgeschlagen“, sagte der Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network, Thomas Ruttig. Zwar seien die afghanischen Truppen gut ausgerüstet, aber es fehle ihnen an Kampfmoral. Die Soldaten fühlten sich von dem plötzlichen und bedingungslosen Abzug der internationalen Truppen im Stich gelassen.
Schwere Menschenrechtsverletzungen
Unter dem Vormarsch leidet vor allem die Zivilbevölkerung. In der ersten Jahreshälfte sind den Vereinten Nationen zufolge mindestens 1.659 Zivilisten getötet und 3.524 weitere verletzt worden. Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet zeigte sich zudem besorgt über schweren Verbrechen in von den Taliban kontrollierten Gebieten. So seien Frauen ausgepeitscht worden, wenn sie sich den Regeln der Miliz widersetzten. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seit Beginn des Jahres 359.000 Afghaninnen und Afghanen vor den Kämpfen geflohen.
Pro Asyl begrüßte den Abschiebestopp. Er sei „mehr als überfällig“, erklärte der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation, Günter Burkhardt. „Es gibt keine sicheren Gebiete in Afghanistan, es gibt keinen internen Schutz vor der Taliban.“ Bereits am Dienstag hatten 26 Organisationen und Menschenrechtsgruppen gefordert, Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen.
Luise Amtsberg, flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen, begrüßte die „politische Kehrtwende“ als „überfällige Entscheidung“. Viel zu lange habe die Bundesregierung die dramatische Sicherheitslage in Afghanistan aus innenpolitischen Gründen ignoriert. „Außenminister Maas muss umgehend dafür sorgen, dass der Lagebericht seines Hauses an die aktuelle Lage vor Ort angepasst wird“, so Amtsberg. (epd/mig) Leitartikel Politik
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