Moria, Flüchtlinge, Denk ich an Moria, Griechenland, Buch, Buchcover
„Denk ich an Moria“ von Helge-Ulrike Hyams © Berenberg Verlag, Collage: MiG

Exklusiv Buchauszug

Denk ich an Moria

Helge-Ulrike Hyams hat in Moria ein Winter mit Geflüchteten gelebt. In Ihrem Buch zeichnet sie das Porträt eines Ortes und seiner Menschen - ein Blick in das Innenleben. MiGAZIN veröffentlicht aus dem Buch exklusiv das Kapitel "Müll".

Freitag, 23.04.2021, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.03.2024, 7:00 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

„Wir haben beschlossen, uns um die Strände von Lesbos zu kümmern und den dort liegenden Müll zu entsorgen. Um die natürliche Schönheit dieser Insel wiederherzustellen, die uns allen am Herzen liegt.“ One Happy Family

Nichts war in Moria so allgegenwärtig wie der Müll. Er lag überall, er wirbelte herum, stank und versperrte den Weg. Wenn irgendetwas die Misere des Lagers versinnbildlichte, dann waren es die Abfallberge. Moria glich einer Müllhalde. Man meinte, der Unrat würde nie abtransportiert, was natürlich nicht ganz stimmte, aber die Mytilini-Müllabfuhr war anscheinend hoffnungslos überfordert mit den ständig anwachsenden Mengen von Abfällen.

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Denk ich an Moria: Ein Winter auf Lesbos. Von Helge-Ulrike Hyams. Berenberg Verlag. Broschiert, 160 Seiten. ISBN-10: 3946334946.

Die zwanzigtausend Menschen produzierten eine enorme Menge Müll, auch ohne intakten Hausstand. Sämtliche tägliche Mahlzeiten kamen in Plastikhüllen, manchmal sah ich morgens am Hafen die Lastwagen mit riesigen Essensladungen, begleitet von gigantisch anmutenden Paletten von Plastikflaschen. Alles Essbare für die große Menschenmenge in Moria wurde eingeschweißt, und da so gut wie alles Essbare Müll „Wir haben beschlossen, uns um die Strände von Lesbos zu kümmern und den dort liegenden Müll zu entsorgen. Um die natürliche Schönheit dieser Insel wiederherzustellen, die uns allen am Herzen liegt.“ One Happy Family Nichts war in Moria so allgegenwärtig wie der Müll. Er lag überall, er wirbelte herum, stank und versperrte den Weg. Wenn irgendetwas die Misere des Lagers versinnbildlichte, dann waren es die Abfallberge. Moria glich einer Müllhalde. Man meinte, der Unrat würde nie abtransportiert, was natürlich nicht ganz stimmte, aber die Mytilini-Müllabfuhr war anscheinend hoffnungslos überfordert mit den ständig anwachsenden Mengen von Abfällen. Die zwanzigtausend Menschen produzierten eine enorme Menge Müll, auch ohne intakten Hausstand. Sämtliche tägliche Mahlzeiten kamen in Plastikhüllen, manchmal sah ich morgens am Hafen die Lastwagen mit riesigen Essensladungen, begleitet von gigantisch anmutenden Paletten von Plastikflaschen. Alles Essbare für die große Menschenmenge in Moria wurde eingeschweißt, und da so gut wie alles Essbare schmierig und klebrig, geruchsintensiv und mehr oder minder leicht verderblich war, waren auch die Abfallberge eben genau dies: schmierig, klebrig, geruchsintensiv, verderblich – kurz: eklig!

„Mit dem Abfall und den Essensresten kamen die Tiere: Wanderratten, Mäuse, Schlangen, Raben, Katzen, Hunde, Schaben und Insekten aller Art. „

Mit dem Abfall und den Essensresten kamen die Tiere: Wanderratten, Mäuse, Schlangen, Raben, Katzen, Hunde, Schaben und Insekten aller Art. Die Müllberge glichen ungesunden, aber höchst diversen Biotopen, in denen die Tiere ihre Futterkämpfe ausfochten. Krähen verscheuchten Katzen. Hunde bissen sich gegenseitig im Kampf um Plastikfutterreste – immerhin war das ein Schauspiel für die Kinder von Moria. Sie brauchten keinen Zoo, sie hatten ihn direkt vor ihrer Container- oder Zelttür. Und da der Müll omnipräsent war, krochen und schlängelten die tierischen Gäste auch in die Zelte und Container hinein, überall dort, wo es Schlupflöcher gab. Oft konnten die Menschen nicht einschlafen wegen der Ratten. Mütter sorgten sich, dass die hungrigen Tiere ihre schlafenden Säuglinge annagen könnten.

Immer wieder lagen tote Ratten, Tauben oder Möwen vor den Zelten, erschlagen, erdrückt oder vergiftet. Niemand traute sich, sie anzufassen, Jungen kickten sie dann wie Fußbälle herum, Mädchen kicherten, und die Erwachsenen schauten zur Seite.

„Windeln wurden nicht nur von Babys getragen, sondern oft auch von Erwachsenen, von vielen Frauen und Mädchen, die sich nachts nicht trauten, die weit entfernten Toiletten aufzusuchen, weil sie Angst vor sexuellen Übergriffen hatten.“

Und die Ausscheidungen. Die unfassbar vielen vollen Windeln, auch wenn diese immer knappe Handelsgüter waren, die neben den übervollen Müllcontainern lagen und vor sich hin stanken. Windeln wurden nicht nur von Babys getragen, sondern oft auch von Erwachsenen, von vielen Frauen und Mädchen, die sich nachts nicht trauten, die weit entfernten Toiletten aufzusuchen, weil sie Angst vor sexuellen Übergriffen hatten. Die Gefahr war real. Diese Frauen und Mädchen trugen, wenn sie nicht bis zum nächsten Morgen auf den Klogang warten konnten, Einlagen – und diese aus der Angst entstandenen Ersatz-Toiletten landeten dann ebenfalls in den offenen Müllcontainern, gemeinsam mit blutigen Binden und Tampons. Innerhalb ihres kleinen Wohnbereichs achteten die Bewohner Morias jedoch auf größtmögliche Sauberkeit. Hier wurde unentwegt gefegt und gesprüht. Überall verbreitete sich der Geruch von Desinfektionsmitteln, und die Teppiche, die tags als Gebetsteppiche dienten und nachts als Kälteschutz, wurden unentwegt ausgeschüttelt. Die Frauen achteten sorgsam auf Sauberkeit für den eigenen Körper und die eigenen Kleider.

Der Bereich außerhalb der eigenen Schwelle aber wurde von den meisten Migranten als feindliches Niemandsland empfunden, da war es egal, was an Unrat herumwirbelte. All der Plastikmüll ringsumher lag in niemandes Verantwortung. Die Straßen und Wege um Moria herum glichen selbst Müllhalden. Kleine Bäche waren verstopft mit Plastik. Die umliegenden Olivenhaine, Lesbos’ Stolz und Lesbos’ Liebe, übersät mit Plastikflaschen, Dosen und Abfall aller Art. In den von Dichtern besungenen silbergrünen Zweigen der Ölbäume flatterten blaue und weiß-durchsichtige Plastiktüten im Wind wie zarte kleine griechische Fähnchen.

Manchmal versammelten sich Mitarbeiter einer oder mehrerer NGOs und setzten ganze Tage zum Mülleinsammeln an. Meist junge Leute aus aller Herren Länder machten sich eifrig ans Werk und trugen bis zur Erschöpfung Hunderte von riesigen schwarzen Plastiksäcken zusammen. Drei Wochen später war es, als wäre dieser Einsatz nie geschehen. Aktuell Feuilleton

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