Schlauchboot, Flüchtlinge, Meer, Griechenland
Ein Boot der griechischen Küstenwache versucht ein Schlauchboot von Flüchtlingen mit einem gefährlichen Manöver an der Weiterfahrt zu hindern (Archiv)

Die Küstenwache fährt davon

Untersuchung möglicher Pushbacks in der Ägäis lässt Fragen offen

Hat die griechische Küstenwache Geflüchtete in der Ägäis Richtung Türkei zurückgedrängt? Wenn ja, hat die EU-Grenzschutzagentur Frontex tatenlos zugesehen? Ein Untersuchungsausschuss geht diesen Fragen nach. Frontex und Griechenland weisen die Vorwürfe zurück. Flüchtlinge drehten freiwillig um.

Von Donnerstag, 25.03.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 25.03.2021, 15:31 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Eine Nacht im April 2020. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex beobachtet aus der Luft ein Schlauchboot in der Ägäis. Es ist leer und wird von einem Schiff der griechischen Küstenwache in Richtung türkische Gewässer geschleppt. An der Grenze wechseln rund 20 bis 30 Menschen vom Schiff ins Boot und die Küstenwache fährt davon. Dies ist ein Fall einer Reihe, in der es um mögliche Pushbacks geht. Ein Bericht des Frontex-Verwaltungsrates von Anfang März 2021, aus dem die Schilderung stammt, klärt sie nur begrenzt.

In der Türkei gestrandete Flüchtlinge und Migranten können Griechenland teils mit bloßem Auge sehen. Immer wieder wagen Boote die Überfahrt. Nicht alle kommen an. Medien und Menschenrechtler erhoben vor dem Hintergrund Vorwürfe gegen Griechenland und Europas Grenz- und Küstenwachagentur Frontex. Menschen seien abgedrängt, in Richtung Türkei zurückgeschleppt und in seeuntüchtigen Booten und Rettungsinseln alleingelassen worden. Griechenlands Küstenwache stand im Zentrum der Kritik, Frontex wurde Mittun oder fehlendes Eingreifen zur Last gelegt.

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Thematisch geht es um zwei Vorwürfe, erklärt die Seerechtsexpertin Nele Matz-Lück. Zum einen, dass Menschen in Seenot nicht gerettet oder gar in Seenot gebracht würden – ein klarer Bruch des Völkerrechts. Und zum anderen, dass sie entgegen des Refoulement-Verbots pauschal abgewiesen würden, erklärt die Kieler Jura-Professorin. Dieses Verbot greife, wenn die Küstenwache Kontrolle über die Migranten erlange, indem sie beispielsweise ihr Boot an den Haken nehme. „Es besteht dann die Pflicht zu prüfen, ob die Personen schutzbedürftig sind.“

Nicht geklärt

Eine Beurteilung der persönlichen Umstände der Menschen vom Boot gab es in jener Aprilnacht 2020 laut griechischer Seite, wie die Arbeitsgruppe des Frontex-Verwaltungsrats festhielt. Sie hätten keinen Schutz beantragt. Die griechische Küstenwache gab danach ferner an, auch die türkische Küstenwache sei vor Ort gewesen. Auf den Luftaufnahmen war sie laut Bericht aber nicht sichtbar. Eine andere Ungereimtheit betrifft den Motor, der auf See existenziell sein kann: „Ob zum Zeitpunkt des Verlassens der Stelle durch die griechische Küstenwache ein Motor im Inneren des Schlauchbootes verstaut war, so wie es die griechische Küstenwache angab, konnte von der Arbeitsgruppe nicht geklärt werden.“

Der Frontex-Verwaltungsrat soll die Agentur unter ihrem Chef Fabrice Leggeri beaufsichtigen. Der verteidigt sich auch öffentlich. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ verwies er im Februar auf die Hauptverantwortung der Griechen. Zudem machte der Franzose geltend: „Es sind aber nicht alle Menschen in Seenot, die versuchen, die Außengrenze der EU illegal mit einem Boot zu überschreiten. Es sind auch nicht alle Flüchtlinge.“

Abschlussbericht

Dabei erwecken der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe und ein Zwischenbericht des Gremiums vom Januar teils durchaus den Eindruck, dass Frontex die Griechen zu kontrollieren suchte. So habe Leggeri selbst die Griechen nach dem Fall aus der Aprilnacht um Aufklärung gebeten.

Dem „Evangelischen Presseidenst“ erklärt Athen, die Küstenwache halte sich an internationale Verpflichtungen. „Was die tendenziösen Vorwürfe angeblicher illegaler Handlungen angeht, müssen wir betonen, dass die operationellen Praktiken der griechischen Behörden niemals solche Handlungen eingeschlossen haben“, so das Ministerium für maritime Angelegenheiten und Inselpolitik.

„Notlüge“

Der Frontex-Verwaltungsrat stufte im Zwischenbericht acht Fälle als geklärt ein. Pushbacks wurden hier wie auch bei fünf bis sechs weiteren Fällen nicht festgestellt. Diese weiteren konnten allerdings auch im Abschlussbericht nicht „jenseits allen Zweifels“ geklärt werden. Allerdings hieß es dort unter anderem: „Es gibt keine Hinweise darauf, dass jemand im Zusammenhang mit den jeweiligen Vorfällen verletzt, als vermisst gemeldet oder gestorben ist.“ Vergangene Woche sagte Verwaltungsratschef Marko Gasperlin einem Untersuchungsgremium des Europaparlaments, Frontex habe nun die verbliebenen Fälle bis auf einen geklärt – er erwarte weitere Informationen.

Dem EU-Abgeordneten Erik Marquardt (Grüne) ist das zu dünn. Es sei zum Beispiel „absurd“ anzunehmen, dass Boote in der Ägäis wiederholt freiwillig Richtung Türkei abdrehten, wie die Griechen behaupteten. „Die Menschen auf überfüllten Schlauchbooten haben in griechischen Gewässern das Recht, Asylanträge zu stellen. Zu behaupten, dass sie einfach umdrehen, ist eine Notlüge, um gewaltsame Pushbacks zu verschleiern“, urteilt Marquardt, der 2020 selbst auf Lesbos war. Die vom Frontex-Verwaltungsrat versäumte Aufklärung müsse nun das parlamentarische Untersuchungsgremium nachholen. (epd/mig) Leitartikel Panorama

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