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Sachsen-Studie

Mehr als 700 antisemitische Vorfälle in fünf Jahren

In Sachsen wurden zwischen 2014 und 2019 durchschnittlich drei antisemitische Vorfälle pro Woche gezählt. Das geht aus einer aktuellen RIAS-Studie hervor. Die Verfasser gehen von einer viel höheren Dunkelziffer aus. Vorfälle würden oft nicht gemeldet, weil viele Juden die Erfolgsaussichten einer Anzeige als gering einschätzten.

Dienstag, 02.03.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 01.03.2021, 14:30 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) hat zwischen 2014 und 2019 in Sachsen 712 antisemitische Vorfälle registriert. Darunter seien 484 polizeilich erfasste politisch motivierte Straftaten, sagte RIAS-Bundesgeschäftsführer Benjamin Steinitz bei der Vorstellung einer Studie in Berlin. 178 Fälle seien ausschließlich aus zivilgesellschaftlichen Quellen bekannt. Lediglich 50 antisemitische Vorfälle wurden laut Steinitz von Polizei und Zivilgesellschaft erfasst.

Auffällig sei ein antisemitischer Vorfall der trotz Anwesenheit der Polizei nicht in der Statistik auftauche: Am 11. Januar 2016 kam es während eines Fußballspiels in Leipzig zu Rangeleien auf der Tribüne und einem versuchten Platzsturm. Dabei gab es auch antisemitische und rassistische Beleidigungen aus einem Fanblock.

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Drei antisemitische Vorfälle pro Woche

Im Schnitt seien pro Woche etwa drei Fälle bekanntgeworden. „Wir müssen aber von einem erheblichen Dunkelfeld in allen Regionen des Freistaates ausgehen“, sagte Steinitz. Viele Juden schätzen der Studie zufolge die Erfolgsaussichten einer Anzeige als „eher gering ein“ und verzichten daher bei antisemitischen Vorfällen häufig auf eine Anzeige.

Wie aus der Studie hervorgeht, lag die Aufklärungsquote im Bereich der politisch motivierten Kriminalität 2019 bundesweit bei 41 Prozent. In Sachsen lag die Aufklärungsquote im selben Zeitraum jedoch bei nur 32 Prozent. Bei antisemitisch Straftaten konnten zwischen 2014 und 2019 jedoch in 56 Prozent der Fälle Tatverdächtige ermittelt werden. Bei Straftaten, die sich direkt gegen Personen richteten, wurde sogar eine Aufklärungsquote von 73 Prozent verzeichnet. Zu allen 9 erfassten Gewaltstraftaten wurden jeweils Tatverdächtige ermittelt.

Ermittlungen oft nicht zufriedenstellend für Opfer

Eine hohe Aufklärungsquote sei „besonders wichtig für das Anzeigeverhalten. „Allerdings bedeutet die Ermittlung von Tatverdächtigen nicht automatisch, dass ein Strafverfahren auch im Sinne der Betroffenen zufriedenstellend verläuft“, heißt es in der Studie. Sie sei stets nur ein erster Schritt. Die Verfasser fordern daher eine Untersuchung der Gerichtsverfahren und der entsprechenden Urteile.

Ob eine angezeigte Straftat an das zuständige LKA weitergeleitet, vom polizeilichen Staatsschutz verfolgt und in die Statistik für politisch motivierte Kriminalität (PMK) aufgenommen werde, hänge den Studienverfassern zufolge zudem in hohem Maß von den Informationen ab, die bei der Anzeigenstellung erfasst werden. Entscheidend seien dabei häufig die Erfahrungen, der Kenntnisstand und die Sensibilität der Polizeibeamten, die eine Anzeige aufnehmen.

Antisemitismus nicht in der Statistik

Dem RIAS seien viele Fälle bekannt, in denen trotz Strafanzeige mögliche antisemitische Tatmotive nicht in der PMK-Statistik auftauchten. Betroffene berichteten davon, dass sie schon bei der Vernehmung vor Ort hatte den Eindruck gehabt hätten, dass die zuständigen Polizeibeamten Antisemitismus keine besondere Aufmerksamkeit schenkten.

Zsolt Balla, Landesrabbiner von Sachsen, beklagt eine Bagatellisierung von Erfahrungen mit Antisemitismus. Der Vorsitzende des Landesverbands Sachsen der Jüdischer Gemeinden, Nora Goldenbogen, sieht die Zivilgesellschaft und Politik in der Verantwortung. Antisemitismus werde „spürbar“ Beschwiegen. „Gerade hier muss die Zivilgesellschaft, aber auch die Politik noch proaktiver und ausdauernder Position gegen Antisemitismus beziehen. Präventionsprojekte gegen Antisemitismus müssen dringend vervielfacht und dauerhaft gefördert werden“, erklärt Goldenbogen.

Meisten Vorfälle in Dresden, Chemnitz und Leipzig

Die meisten Vorfälle und die schwersten gebe es in den drei großen Städten Dresden, Chemnitz und Leipzig, wo auch die jüdischen Gemeinden beheimatet sind. Vergleichbare Erkenntnisse zeigten RIAS-Studien auch für andere Bundesländer. Neben Berlin komme es aber vor allem in der Landeshauptstadt Dresden vermehrt zu antisemitischen Vorfällen – vor allem im Umfeld von Demonstrationen, etwa bei der islam- und asylfeindlichen „Pegida“-Bewegung oder bei Corona-Protesten, sagte Steinitz.

Seit 2018 verfolgt RIAS nach eigenen Angaben das Ziel, eine einheitliche zivilgesellschaftliche Erfassung antisemitischer Vorfälle zu etablieren. Daten gebe es bisher unter anderem aus Baden-Württemberg, Bayern und Brandenburg sowie Hessen und Sachsen-Anhalt. Für die Studien werden qualitative und quantitative Quellen herangezogen. (epd/mig) Leitartikel Panorama Studien

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