Interview mit Christoph Heubner
Auschwitz Komitee fordert konsequentes Vorgehen gegen Nazis in Behörden
Wegen der Corona-Pandemie mussten Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der NS-Konzentrationslager abgesagt werden. Statt öffentlich geehrt zu werden, schlug Überlebenden im Corona-Jahr 2020 Antisemitismus entgegen. Dass sich an ihrer Bedrohungslage nichts geändert hat, sei für viele eine "sehr bittere Erkenntnis", sagt der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, im Gespräch.
Von Markus Geiler Mittwoch, 13.01.2021, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.01.2021, 14:04 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Die Gedenkfeiern zum 75. Jahrestag der Befreiung mussten wegen Corona dieses Jahr abgesagt werden. Wie haben das Auschwitz-Überlebende wahrgenommen?
Christoph Heubner: Mit einem sehr zwiespältigen Gefühl. Viele haben auf das Datum hingelebt als eine Art Abschluss. Wir werden immer weniger und wir begehen das mit denen, die noch da sind, mit denen die nicht mehr da sind und mit denen die nie dabei sein konnten. Gleichzeitig beginnt da wieder etwas, wo wir dachten, es ist längst überwunden. Der Antisemitismus nimmt zu, die Verschwörungserzählungen nehmen zu und paaren sich mit dem Antisemitismus und altes wächst mit neuem Rechtsextremismus zusammen und die Dummheit ist immer noch so aggressiv und tückisch, wie sie es gewesen ist.
Und wie wurden dann die Demonstrationen der Corona-Leugner hierzulande wahrgenommen?
Die Anspannung ist mit jeder Demonstration und jedem Vorfall in Europa gewachsen. Natürlich sollen es wieder die Juden sein, die hauptverantwortlich sind für diese Pandemie. Damit wächst bei den Überlebenden ein Gefühl der Bedrohung, dass sie nicht nur selbst betrifft, sondern auch ihre Nachkommen. Das ist tragisch, weil viele Überlebende nach dem Holocaust allein, ihre Angehörigen alle ermordet waren. Dann haben sie neue Familien gegründet und Kinder bekommen. Jetzt müssen sie erkennen, die Bedrohungssituation ist im Grundsatz immer noch vorhanden, sie werden ihren Kindern und Enkelkindern kein Leben in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit garantieren können. Sondern die langen Schatten umhüllen auch sie. Das ist eine sehr bittere Erkenntnis, weil die Überlebenden ja einen sehr langen Weg gegangen sind.
„Das ist tragisch, weil viele Überlebende nach dem Holocaust allein, ihre Angehörigen alle ermordet waren. Dann haben sie neue Familien gegründet und Kinder bekommen. Jetzt müssen sie erkennen, die Bedrohungssituation ist im Grundsatz immer noch vorhanden…“
Der 2016 gestorbene Auschwitz-Überlebende Eli Wiesel sagte einmal, dass subjektive Gefühl der Überlebenden nach der Befreiung war, die Welt wird uns auf einer Sänfte durch die nächsten Jahrzehnte tragen. Sie wird uns achten, ehren, schützen. Die Erkenntnis, dass die Aggressivität des Antisemitismus immer latent vorhanden ist und neue Richtungen entwickelt und sich neu formiert, das ist schon sehr, sehr bitter. Auch für die Kinder- und Enkel der Überlebenden.
Hat die deutsche Politik in den vergangenen Jahren zu viel Sonntagsreden gehalten und zu wenig konkret gehandelt?
Wir haben heute wieder eine kleine Gruppe von Menschen, die längst wieder drin ist in diesem aggressiven Antisemitismus, der irgendwann vor den Toren von Auschwitz landet. Dazu gehören die NPD und die rechtsextremen Kameradschaften, die man über Jahre sträflich vernachlässigt hat und immer dachte, das sind nur Randerscheinungen. Jetzt ist noch die AfD hinzugekommen und man stellt fest, dass diese Gruppen untereinander vernetzt sind und zudem eine düstere Ausstrahlung auch in Szenen hinein haben, wo der Staat wirklich elementar darauf achten muss, dass das Innerste seines demokratischen Wesens gewahrt bleibt, nämlich in die Polizei und die Bundeswehr. Jeder einzelne Rechtsextremist und Antisemit in den Reihen der Polizei und Bundeswehr ist einer zu viel. Es geht nicht um einen Generalverdacht. Es gibt eine übergroße Anzahl von Polizisten, die ihren Job anständig verrichten. Es geht um die Leute, die die Polizei von innen heraus diskreditieren und die müssen aus dem Dienst entfernt werden. Das ist die Aufgabe des Staates. Das gleiche gilt für die Bundeswehr.
Wie groß schätzen sie denn das Potenzial an Antidemokraten und Geschichtsvergessenen in der Gesellschaft?
Ein Drittel wird in etwa hinkommen. Es gibt aber auch die lauen Demokraten, die Schlafwagen-Demokraten, die meinen, wir sind auf ewig versichert auf die Demokratie. Dazu kommen diejenigen, die immer noch nicht begriffen haben, dass man jetzt laut werden muss, in einer Situation, wo unsere Gesellschaft erstmals an ihre Grenzen gerät. Dabei geht es nicht nur um die Minderheiten, die Ausländer, die Flüchtlinge, die Juden, nein es geht um einen selbst. Was wird mit uns und der Gesellschaft passieren, wenn Hass und Hetze weiter um sich greifen?
„Viele erzählen, von den Nazis damals hätten sie nichts anderes erwartet als Hass, Attacke und Häme. Das Entsetzliche, was ihnen das Herz gefrieren lies, waren die Gleichgültigen. Der Nachbar, der zwei Tage zuvor noch gegrüßt hatte und jetzt plötzlich die Straßenseite wechselt. Die Frage ist, wie groß ist die Zahl der Gleichgültigen heute? „
Ein großes Problem für die Überlebenden ist dabei die Gleichgültigkeit vieler. Viele erzählen, von den Nazis damals hätten sie nichts anderes erwartet als Hass, Attacke und Häme. Das Entsetzliche, was ihnen das Herz gefrieren lies, waren die Gleichgültigen. Der Nachbar, der zwei Tage zuvor noch gegrüßt hatte und jetzt plötzlich die Straßenseite wechselt. Die Frage ist, wie groß ist die Zahl der Gleichgültigen heute? Viele in der Politik haben das mittlerweile begriffen, dass es jetzt nicht mehr um Reden, sondern um eine Haltung geht, die sich am praktischen Handeln erweist.
Eine Studentin aus Kassel sieht sich im Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen in der Tradition von Sophie Scholl, eine Elfjährige fühlt sich wie Anne Frank, weil sie ihren Kindergeburtstag nicht wie gewohnt feiern konnte. Was ist schief gelaufen in der politischen Bildung hierzulande?
Diese Beispiele zeigen die Verschiebungen, die in den vergangenen Jahren stattgefunden haben. Politische Bildung hat einen emotionalen und einen intellektuellen Aspekt. Es liegt eine vertrackt schwere Aufgabe vor uns, einfach deutlich zu machen, wie wir leben, wo wir leben und wofür wir stehen. Jetzt, wo es den Leuten an den eigenen Hintern geht, zeigen sich diese Verschiebungen deutlich, das Differenzierungsvermögen nimmt ab und es kommen nur egozentrische Dummheiten heraus. Und diese Dummheiten nützen den rechten Rattenfängern.
Wir müssen uns wirklich fragen, was haben wir in der politischen Bildung versäumt, wenn Leute mir sagen, mit den Corona-Maßnahmen läuft alles auf ein neues Auschwitz hinaus, uns wird das Demonstrationsrecht genommen, ich bin so eingeengt und fühle schon den Stacheldraht. Da stellen wir fest, dass ein Ansatz von Engagement und emotionaler Betroffenheit in eine falsche Richtung abbiegt. Das wird uns noch lange beschäftigen.
Wo sehen Sie das Auschwitz-Komitee in zehn Jahren, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt?
Wir gestalten das Erbe der Überlebenden und füllen es aus, das ist unsere Legitimität. All das wird in der Gesellschaft weiterhin eine ganz zentrale Rolle spielen müssen, um die gegenwärtigen Bedrohungen aufzufangen. In zehn Jahren wird es ein Auschwitz-Komitee geben, das in der Gesellschaft fest verankert ist und weiter nötig ist. Die Notwendigkeit unserer eigenen Bedeutung als Auschwitz-Komitee werden wir uns nicht von Leuten absprechen lassen, die ständig darüber bramabarsieren, dass es diese nicht mehr gibt.
Was halten Sie von verpflichtenden Schülerfahrten in KZ-Gedenkstätten?
In Deutschland sollte man mit dem Begriff „Pflicht“ generell sehr vorsichtig sein. Ich höre schon die absurde Debatte: „verpflichtende Gedenkstättenfahrten sind wie Impfpflicht, wir werden gegen Antisemitismus geimpft in Auschwitz, dafür ist Geld da“. Ich halte deswegen nichts davon. Es gibt so viele engagierte Lehrer und Jugendgruppenleiter, die mit ihren Klassen und Gruppen dahinfahren wollen. Man muss es ihnen aber auch ermöglichen, dazu haben die Bundesländer die Verpflichtung. Sie dürfen die Lehrerinnen und Lehrer nicht hängen lassen. Über alle öffentlichen Beteuerungen hinaus, erwarte ich von Bund und Ländern ganz konkrete Maßnahmen, dass man Schulklassen und Jugendgruppen finanziell und zeitlich dazu befähigt, solche Gedenkstätten zu besuchen, wenn sie das wollen. (epd/mig) Aktuell Feuilleton Interview
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