Kadir Özdemir, Migazin, Integration, Migration, Migranten, Soziologie
A. Kadir Özdemir © privat, Zeichnung: MiG

Defragmentiert

Die Ungetrösteten

Was bedeutet es für eine Weißdeutsche, darüber zu lesen, dass People of Color in Polizeigewahrsam sterben? Was macht es mit ihnen und was macht es mit People of Color?

Von Sonntag, 23.08.2020, 12:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 22.09.2020, 15:15 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Gesine fragt, warum wir besessen sind von NSU 2.0, NSU, Hanau, Oury Jalloh, Amad Ahmad, Eric Garner, George Flyod, Marwa El-Sherbini, Rooble Warsame, sogar noch von Hoyerswerda, Solingen, Mölln.

„Was ist ein angemessener Zeitraum, um die Opfer von weißer Gewalt zu vergessen?“, frage ich.

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Sie ist etwas beleidigt, sie mag es nicht, wenn Menschen als weiß bezeichnet werden, sie empfindet es als rassistisch. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Mate, ignoriert meine Frage und will wissen, ob ich ein Problem habe, Trauer loszulassen? Ich weiß, sie will mir was Gutes tun, mich trösten. Nur. Ich schließe die Augen. Können Weißdeutsche überhaupt begreifen, was diese Gewaltverbrechen in uns auslösen? Die Trauer und der Schmerz ist für uns Schwarze Deutsche, Türkisch-Deutsche, Kurdisch-Deutsche, Vietnamesisch-Deutsche, Yesidisch-Deutsche, Muslimisch-Deutsche, Sinti und Roma-Deutsche reell und wird nicht durch eine Fernsehansprache oder einige Betroffenheitsbekundigungen weggeweht. Unsere Trauer währt manchmal ein Leben lang. Wir gedenken unseren Toten, außerhalb von staatlich regulierten Gedenkkulturen, geben die Erinnerung an das Unrecht weiter, lassen die Ermordeten nicht durch Apathie und Schulterzucken ein zweites Mal sterben. Das ist Loyalität mit unseren Communities.

„Weißdeutsche interpretieren gern diese Solidarität als Desintegration, sie brauchen nicht den Schutz, den Austausch, das Mitfühlen von Schmerz, einen Raum gemeinsamen Wissens. Sie werden nicht bedroht, ihre Unterkünfte, ihre Gebetshäuser werden nicht attackiert. Ihre Kinder müssen nicht in Polizeigewahrsam verbrennen.“

Weißdeutsche interpretieren gern diese Solidarität als Desintegration, sie brauchen nicht den Schutz, den Austausch, das Mitfühlen von Schmerz, einen Raum gemeinsamen Wissens. Sie werden nicht bedroht, ihre Unterkünfte, ihre Gebetshäuser werden nicht attackiert. Ihre Kinder müssen nicht in Polizeigewahrsam verbrennen. Wir als Menschen mit Migrationserbe wissen, dass wir gemeinsam in dem weißen Gesellschaftssystem machtvoller, rassistischer Ordnungssysteme stecken. Und wir überwinden zunehmend den kolonialistischen Separatismus, verbinden uns intersektional und machen in der Alte-Weiße-Männer-Dämmerung auch Angst.

Gesine entschuldigt sich und tippt schnell eine Nachricht ab. Ich schaue mir derweil die kleinen, runden Tische des Cafés an, an denen meistens Paare sitzen. Mein Blick wandert zu den Passant:innen, zu den parkenden Autos am Straßenrand, bleibt an einem Polizeiwagen stehen. Vielleicht sind die Polizist:innen, die damit fuhren, gerade unterwegs, um Sicherheit und Ordnung herzustellen oder einen weiteren fünfzehnjährigen zu verprügeln. Vielleicht machen sie hier auch einfach eine Pause für Kaffee & Kuchen. Das würde sie so nahbar machen.

„Jede Schwarze Person erlebt zwei Tage, die sie nie vergisst, schreibt Candice Brathwaite, der erste Tag ist der, an dem sie das erste Mal merken, dass sie Schwarz sind. Und der zweite Tag, an dem andere Leute sie das erste Mal dafür ächten. Nicht selten machen sie diese Erfahrung mit Institutionen wie Schule und Polizei.“

Nach einer kurzen Weile kommen zwei Polizisten aus dem Kebab-Laden raus. Als sie den Weg einer Schwarzen Frau mit Kind kreuzen, nimmt diese ihre kleine Tochter auf die andere Seite. Ein Reflex. Jede Schwarze Person erlebt zwei Tage, die sie nie vergisst, schreibt Candice Brathwaite, der erste Tag ist der, an dem sie das erste Mal merken, dass sie Schwarz sind. Und der zweite Tag, an dem andere Leute sie das erste Mal dafür ächten. Nicht selten machen sie diese Erfahrung mit Institutionen wie Schule und Polizei. Die Beamten lassen sie passieren, lächeln ganz nett und steigen in den Wagen ein.

Als Gesine wieder aufschaut, deute ich mit dem Kopf auf den Polizeiwagen und erzähle, dass ich in diesem Monat bereits zwei Mal angehalten wurde. Ein kurzer säuerlicher Ausdruck huscht über Gesines Gesicht. Sie bedauert, dass es mich erwischt hat, kann sich gar nicht erklären, weshalb. Aber Ausreißer gebe es überall und sie findet, dass Polizist:innen zu Unrecht unter Beschuss stehen. Die überwältigende Mehrheit würde ihren Job tadellos machen. Racial Profiling könne auch schnell missbraucht werden. Zum Beispiel wäre sie, als sie noch Dreads hatte, häufig kontrolliert worden und jetzt mit kurzen glatten Haaren hätte sie seit Jahren kein Problem gehabt.

„Meine Locken könnte ich opfern und was mache ich mit meiner Haut?“, frage ich.

„Was bedeutet es für eine Weißdeutsche, darüber zu lesen, dass People of Color in Polizeigewahrsam sterben? Was macht es mit ihnen und was macht es mit People of Color? Was macht es mit Weißdeutschen, wenn sie lesen, dass eine Justizministerin Sachsen-Anhalts die Untersuchungen zu Oury Jallohs Tod blockiert? Geht es ihnen auch durch Mark und Knochen?“

„Du bist heute ganz schön düster drauf!“, kommentiert sie und schaut unwillkürlich auf ihrem Handy nach der Uhrzeit. Sie stellt ihre Mate-Flasche von einer Ecke des Tisches auf die andere. Vielleicht bin ich düster drauf, denke ich, vielleicht ist es auch der 1 € Trost, den ich nicht annehmen kann. Wenn jemand gestorben ist, bleibt kein Stein auf dem anderen und doch geht es für einige so weiter, als wäre nichts gewesen, als würde man über das Wetter von letztem Monat sprechen.

Was bedeutet es für eine Weißdeutsche, darüber zu lesen, dass People of Color in Polizeigewahrsam sterben? Was macht es mit ihnen und was macht es mit People of Color? Was macht es mit Weißdeutschen, wenn sie lesen, dass eine Justizministerin Sachsen-Anhalts die Untersuchungen zu Oury Jallohs Tod blockiert? Geht es ihnen auch durch Mark und Knochen? Müssen sie auch die Übelkeit runterwürgen, wenn #ShamelessSeehofer seine bis zur letzten Patrone gepanzerte Brust vor die Polizei spannt und sie von Rassismus freispricht?

Ich gehöre nicht, wie mein Kumpel Levy zu der Fraktion, die klarstellt, die Polizei hat man nicht als WG-Bewohner:in, nicht im Freundeskreis, man hat keinen Sex mit denen, das ist eine Frage des Anstandes. Ich denke, Polizist:innen machen eine wichtige Arbeit und eine schwere dazu. Das respektiere ich. Unabhängig davon aber hat sich in dieser Institution eine toxisch-maskulinistische, heterosexistische und ja auch rassistische Cop Culture entwickelt, die von Autorität und Hierarchie durchzogen ist und das unhinterfragte „wir sind die Guten“ zu ihrem moralischen Imperativ(en) erhoben hat.

„In ihren Augen sind wir Schwarze Deutsche, Türkisch-Deutsche, Kurdisch-Deutsche, Vietnamesisch-Deutsche, Yesidisch-Deutsche, Muslimisch-Deutsche, Sinti und Roma-Deutsche selbst in 2020 weiterhin explizit oder implizit eine Überschreitung gesellschaftlicher Normen. Wir sind im Kern ihres Feindbild-Profilings.“

In ihren Augen sind wir Schwarze Deutsche, Türkisch-Deutsche, Kurdisch-Deutsche, Vietnamesisch-Deutsche, Yesidisch-Deutsche, Muslimisch-Deutsche, Sinti und Roma-Deutsche selbst in 2020 weiterhin explizit oder implizit eine Überschreitung gesellschaftlicher Normen. Wir sind im Kern ihres Feindbild-Profilings. Und wenn Polizist:innen in ihrem Berufsleben eine Gewaltaffinität entwickeln oder ihre täglichen Vergeblichkeitserfahrungen sie frustriert, sie zynisch werden lässt, sie rechten Ideologien folgen, sich vernetzen, können sie sich in dieser Cop Culture darauf verlassen, dass verdammt viel passieren muss, bis einer aus den eigenen Reihen so viel Rückgrat hat, um Kritik zu äußern. Und dann erhalten sie vermutlich Rückhalt von #ShamelessSeehofer.

In so einer Lage, wer schützt uns vor der Polizei? Wenn ich in Polizeigewahrsam lande, würde mein erster Anruf nicht Gesine gelten. Nasha, Ray, Adam oder Golschan. Sie wüssten, was zu tun ist.
Meinung

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  1. Zoran Trajanovski sagt:

    Rassismus ist ein großes Problem, die wir überwunden müssen und zum ein bessere Gesellschaft und Welt damit gelangen zu dürfen. Es wird sehr schmerzhaft werden.

  2. Peter Enders sagt:

    Weshalb schreiben und sagen plötzlich Viele „People of Color“ und nicht „Farbige“?

  3. A.F:B. sagt:

    Mir gefällt die Bezeichnung „Weißdeutscher“ nicht, obwohl ich selbst ein solcher bin. Als Muslim identifiziere ich mich viel weniger über die Rasse oder Staatsangehörigkeit und die von meinen herkunftsdeutschen Vorfahren ererbte Sprache und Kultur als über die Religionszugehörigkeit, und da werde ich auch als Weißdeutscher schnell zum Fremden im eigenen Land, da der Islam in den Köpfen der meisten Nichtmuslime ja noch immer als Ausländerreligion rangiert und viele gar nichts von Konvertiten wissen oder sie marginalisieren.
    Polizeikontrolle auf einem Autobahnparkplatz ein Jahr nach den Anschlägen von 9/11, einer der Polizisten ganz freundlich: „Wissen Sie warum wir das tun? – Weil Sie Muslim sind.“
    „Heimat ist dort, wo man sich nicht erklären muß“ [Johann Gottfried Herder]. Da muß ich mich ernstlich fragen, ob ich Deutschland noch als meine Heimat betrachten darf.
    Wie lange noch wird man den deutschen Nichtmuslimen erklären müssen, daß der Islam eine Weltreligion ist und im Grundgesetz die freie Wahl und Ausübung der Religion als Grundrecht verankert ist?
    Woher weiß er, daß ich Muslim bin? – Weil ich eine in diese Richtung weisende Kopfbedeckung trage. Warum tue ich das? – Weil mir die Luft sonst kalt über die kahle Stelle auf dem Kopf ziehen würde und ich nicht zur großen Mehrheit der Muslime in diesem Land gehöre, die sich als Nichtmuslime zu verkleiden pflegen, womit sie die Last der Äußerungen von Islamfeindlichkeit auf den Schultern der Schwestern im Glauben ruhen lassen, die es vorziehen, sich entsprechend der religiösen Vorschriften zu kleiden, was eigentlich nicht gerade eine solidarische Verhaltensweise der muslimischen Männer darstellt.
    Bitte mich nicht voreilig in die Schublade „Salafismus“ einzuordnen, denn es gibt auch Sufis und unabhängige Muslime, die Bart, Kopfbedeckung, langes Hemd oder weite Hose tragen und das Zahnputzhölzchen gebrauchen, auch wenn die ignoranten Schreiberlinge der Journaille und Hetzmedien solches als „Kennzeichen der Salafisten“ angeben.
    Durch den Umstand, daß die meisten weißdeutschen Muslime überwiegend leicht getönte bis dunkelhäutige Muslimas ehelichen, weil sie keine Rassisten sind, dürften die kommenden Generationen auch der Nachkommen von weißdeutschen Konvertiten mit der doppelten Diskriminierung durch Rassismus und Islamfeindlichkeit zu kämpfen haben.