Buch, Das verfallene Haus des Islam, Ruud Koopmans
"Das verfallene Haus des Islam" von Ruud Koopmans © C. H. Beck, Collage MiG

Rezension zum Wochenende

Islamkritisch oder islamophob? Eine Gratwanderung.

Der Migrationsforscher Ruud Koopmans polarisiert. Kann der Ex-Linke etwas dafür, dass er vor allem von rechts beklatscht wird?

Von Freitag, 14.08.2020, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 12.08.2020, 12:45 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Er gehört nicht nur zu den meistzitierten Wissenschaftlern seines Faches, er ist auch ausgesprochen telegen und wird in zahlreiche TV-Talkshows eingeladen. „Mit seinen stahlblauen Augen, seiner gebräunten Haut und seiner angegrauten Strubbelfrisur sieht er aus, als sei er gerade von einem Segelboot gesprungen“, beschreibt ihn die Berliner taz. „Man würde ihn eher für einen sportlichen Zahnarzt halten als für einen Soziologen, der er ist.“ Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist …?

Und die taz legt nach: „Wie viele Holländer hat er eine sehr direkte Art, die zuweilen an Unverschämtheit grenzt, und strahlt ein Selbstbewusstsein aus, das manchmal schwer von Arroganz zu unterscheiden ist.“ Was hat der Mann verbrochen?

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Religiöse oder andere Ursachen?

Ruud Koopmans, Direktor der Abteilung Migration, Integration und Transnationalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin sowie Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität, hat in den letzten Jahren verschiedene datengesättigte Studien zu Problemen der Integration publiziert. Jetzt legt er ein Buch vor, das Staub aufwirbelt: „Das verfallene Haus des Islams: Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt“ (C.H. Beck, München 2020). Darin versucht er mit einer Fülle von empirischem Material zu beweisen, dass es die zunehmend fundamentalistischen Strömungen des religiösen Islams sind, die praktisch die gesamte muslimische Welt in den letzten vierzig Jahren immer weiter ins Hintertreffen geraten ließen – bildungsmäßig, demokratiepolitisch, ökonomisch und sozial, menschenrechtlich. Und deshalb bildeten muslimische Migranten auch „die Schlusslichter der Integration“. Die NZZ würdigte die Veröffentlichung „als eines der wichtigsten deutschsprachigen Bücher, das in den letzten Jahren über den Islam geschrieben wurde“.

Das Schlüsseljahr 1979

Ein zentrales Datum für den Aufstieg des Fundamentalismus ist das Jahr 1979. Koopmans nennt drei Ereignisse: die islamische Revolution im Iran, den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die Besetzung der großen Moschee in Mekka durch islamistische Terroristen. Um die Moschee mit Hilfe westlicher Spezialkräfte zu stürmen, brauchte das saudische Regime die Unterstützung der Schriftgelehrten. Der Deal funktionierte so: Diese gaben ihre Zustimmung nur unter der Bedingung, dass das Königshaus den erzkonservativen wahhabitisch-saudischen Islam mit seinen reichlich fliessenden Petrodollars finanzieren und weltweit exportieren würde.

Koopmans Buch überquillt förmlich vor Daten und Statistiken, was die Lektüre zum Teil auch etwas mühsam macht. Einige dieser Zahlen geben einem tatsächlich zu denken. Hier eine kleine Auswahl:

  • Die Scharia ist heute in 29 von 47 unabhängigen Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit expliziter Teil des Rechtssystems.
  • Auf einem weltweiten Index zur sozialen Stellung der Frau, der 145 Länder umfasst, sind von den zwanzig Staaten mit der größten Ungleichheit der Geschlechter siebzehn islamisch, darunter Tunesien (Platz 126), die Türkei (129) und Marokko (138). (Die Schweiz liegt an 8., Deutschland an 11. und Österreich an 36. Stelle.)
  • Das Durchschnittseinkommen in den islamischen Ländern südlich der Sahara ist seit 1970 von 70 Prozent auf 33 Prozent des Einkommens in nichtislamischen Ländern gesunken.
  • Seit 1979 wurden laut Amnesty International im Iran 5000 Menschen wegen ihrer Homosexualität hingerichtet. Zehn weitere Länder, alle mit islamischer Mehrheitsbevölkerung, kennen die Todesstrafe für Homosexualität. In weiteren zwanzig islamischen Ländern wird Homosexualität mit Freiheitsstrafen geahndet.

Was ist Fundamentalismus?

In einer eigenen Untersuchung im Jahr 2015 befragte Koopmans 5000 ursprünglich aus der Türkei und Marokko stammende Muslime sowie 3000 Christen in sechs westeuropäischen Ländern nach ihrer Unterstützung für drei fundamentalistische Thesen:

  • „Christen (Muslime) müssen zu den Wurzeln des Glaubens zurückkehren.“
  • „Es gibt nur eine Interpretation der Bibel (des Korans), an die sich alle Christen (Muslime) halten müssen.“
  • „Die Regeln der Bibel (des Korans) sind mir wichtiger als die Gesetze des Einwanderungslandes.“

Koopmans zeigt, dass mehr als 60 Prozent der ersten Generation türkisch- und marokkanischstämmiger Muslime und mehr als die Hälfte der in Europa geborenen zweiten Generation diesen Aussagen zustimmen, während dies nur für zwanzig Prozent der Christen zutrifft. Fast die Hälfte der Muslime der ersten Generation und fast 40 Prozent der zweiten Generation unterstützen alle drei Thesen und zeigen damit gemäß Koopmans „eine geschlossen fundamentalistische Glaubensauffassung“. Das Gleiche gelte für bloß 4 Prozent der Christen.

Der Vorwurf des antimuslimischen Rassismus

Die studentische Fachschaft an der HU wirft Koopmans schon seit Längerem vor, er bereite mit der reißerischen Darstellung seiner Ergebnisse „den Nährboden für antimuslimischen Rassismus“. Er vernachlässige in seiner Forschung Diskriminierungserfahrungen von Muslimen und wende umstrittene Integrationskonzepte an, die auf reiner Assimilation beruhten. Seine Resultate seien stark pauschalisierend und in keiner Weise repräsentativ. Es sei deshalb auch nicht verwunderlich, dass Exponenten von AfD und Pegida oder auch Rechtspopulisten wie Geert Wilders sich gerne auf die Koopmans-Studien beziehen.

Man kann Koopmans zumindest den Vorwurf machen, methodisch nicht immer sauber zu arbeiten. Die Auswahl von türkisch- und marokkostämmiger Muslime ist sicher nicht repräsentativ für alle muslimischen Migranten. Und auch der Vergleich mit einheimischen Christen mit ganz anderem Hintergrund und Selbstverständnis in der heimatlichen Gesellschaft ist ziemlich fragwürdig.

Methodische Defizite

Die Schweizer Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin wirft der Studie zudem eine simplifizierende Fragestellung und eine unsachgemäße Definition von Fundamentalismus vor. „Was hier unter Fundamentalismus verstanden wird, mag für den innerchristlichen Kontext angemessen sein, nicht aber in Bezug auf andere Religionen.“ Muslimische Migranten hätten relativ wenig theologisches Wissen über den Islam. „Sie praktizieren ihn aus Verbundenheit mit einer Mischung von Heimat und Tradition“, betont sie gegenüber der NZZ am Sonntag. Und: „Wer nicht akzeptiert ist, neigt eher dazu, in der Religion einen Halt zu suchen.“

Vor diesem Hintergrund habe die Frage, ob Muslime zurück zu den Wurzeln des Islam gehen sollen, eine ganz andere Bedeutung, als wenn die entsprechende Frage einem europäischen Christen gestellt werde. Auch dass fast zwei Drittel der muslimischen Befragten religiöse Regeln für wichtiger erachten als staatliche Gesetze, ist für die Islamwissenschaftlerin noch kein Hinweis auf Fundamentalismus. „Wenn ich Anweisungen des Korans wie das regelmässige Gebet oder das Fasten einhalte, komme ich doch nicht in Konflikt mit dem Gesetz.“ Hätte man präzis gefragt, ob Muslime die Scharia einführen wollten, wäre die Zustimmung wohl weit tiefer ausgefallen, vermutet Lenzin.

Kolonialismus als Entwicklungshelfer?

Liest man Koopmans’ neues Buch, begegnet man auf den ersten Blick einem über weite Strecken sorgfältig abwägenden, etwas statistikverliebten Wissenschaftler. Feinsäuberlich zerpflückt er andere Erklärungsversuche für die Misere des „real existierenden Islams“. Ein Erbe des westlichen Kolonialismus? Mitnichten, meint Koopmans. „Das Gegenteil ist der Fall. Die islamische Welt wurde vom westlichen Kolonialismus weniger beeinflusst als der Rest der nichtwestlichen Welt, und gerade diese geringere historische Prägung durch westliche Ideen und Institutionen hat negative Auswirkungen auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Demokratie in der islamischen Welt.“

Und auch umgekehrt: „Je länger der westliche Kolonialismus gedauert hat, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Land heute ganz oder teilweise demokratisch ist“, behauptet Koopmans.

Da wird man doch etwas stutzig. Lässt sich ein so komplexes und vielgestaltiges Phänomen wie der Kolonialismus in seiner unterschiedlichen Wirkung allein auf religiöse Vergleichsparameter reduzieren? In diesem Kontext unterlaufen Koopmans auch einige offensichtliche Fehlaussagen. So behauptet er, der Iran habe nie eine Fremdherrschaft erlebt. Tatsächlich war der Iran aber während des 2. Weltkriegs im Norden von der Sowjetunion und im Süden von Grossbritannien besetzt. Den CIA-Putsch von 1953 gegen die erste (und letzte) demokratische Regierung von Mohammed Mossadegh, der die Ölindustrie verstaatlichen und eine Landreform durchführen wollte, verschweigt Koopmans ganz, obwohl die Entwicklungen im Iran im Buch immer wieder angesprochen werden.

Islamophobie – ein Hirngespinst?

Und wie steht’s mit westlicher Islamophobie als Erklärungsmuster für den Niedergang? „Die kontraproduktivste Diagnose, die über die Ursachen der Krise in der islamischen Welt kursiert, ist die der Islamophobie“, schreibt Koopmans dezidiert. Für ihn ist der Selbstausschluss, den muslimische Migranten in westeuropäischen Gesellschaften betreiben, viel entscheidender. In zwei grossangelegten Studien habe er die öffentliche Debatte über Einwanderung und Integration in fünf europäischen Ländern untersucht, unter anderem auch in der Schweiz. In der ersten Studie hätten nur 1,6 Prozent der Zeitungsbeiträge Muslime oder den Islam zum Thema gehabt. Auch die zweite Studie über so strittige Themen wie Burka, Kopftuch, Bau von Minaretten und Moscheen, Handschlag-Verweigerung etc. hätten gezeigt, dass die Befürworter eines Entgegenkommens gegenüber den Forderungen der Muslime in allen untersuchten Ländern in der Mehrheit waren.

Selektive Datenbasis

Hat man richtig gelesen? Nur mal für die Schweiz gefragt: Kein Niederschlag der jahrelangen und flächendeckenden antimuslimischen Kampagnen der SVP? Keine giftige Kontroverse samt Volksabstimmung über das Minarett-Verbot? Keine Weltwoche unter Roger Köppel und keine Basler Zeitung unter Chefredaktor Markus Somm mit ihren regelmäßigen Ausfälligkeiten gegen Muslime und Islam? – Wenn man genauer hinschaut, sieht man: Koopmans Studien beziehen sich auf die Jahre 1990 – 1999 und 1999 – 2008 und blenden damit die wichtigsten Zeiträume für diese Debatten schlicht aus. Ist das Benutzen einer solch verschobenen und selektiven Datenbasis für das Belegen einer überaus steilen These noch seriös?

Interessanterweise liefert Koopmans zu diesen Studien in seinem Buch auch keine genauen Zahlen. Und was heisst in diesem Kontext, „dass die Befürworter eines Entgegenkommens in der Mehrheit waren“? 51:49? 60:40? 70:30? Und ab welchem Zahlenverhältnis könnte man wirklich von der behaupteten islamfreundlichen Grundatmosphäre sprechen?

Was fehlt?

Insgesamt zeigt Koopmans’ von zahlreichen Rezensenten hochgelobtes Buch erstaunlich viele Leerstellen:

Er schreibt fast nichts über den Islam als Religion. Und man bekommt den Eindruck, dass ihn das auch nicht sonderlich interessiert.

Dadurch bleibt auch ungeklärt, wo denn die Grenzlinien zwischen einem fundamentalistischen, einem seriös konservativen und einem aufgeklärt liberalen Islam verlaufen könnten.

Die monokausale Fixierung auf das Religiöse als einziges Erklärungsmuster für die komplexen Zusammenhänge bekommt zunehmend etwas Mechanisches und Obsessives.

Dass Religion in den meisten politischen Kontexten nur als Deckmantel für tieferliegende Machtinteressen eingesetzt wird, dazu verliert Koopmans kein Wort.

Nichts zum bevölkerungsreichsten Staat China und seiner systematischen Unterdrückung muslimischer Minderheiten.

Außen vor bleiben auch die muslimischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, in denen die Frauen und die allgemeine Volksbildung eine wesentlich bessere Stellung haben.

Sehr dünn und rein appellhaft wirken die paar kurzen Andeutungen zur dringend nötigen Reformierbarkeit des gegenwärtig dominanten Islamverständnisses.

Und warum schlägt Koopmans nicht auch mal einen Bogen zu den einheimischen und zurzeit sehr aktiven Demokratie-Verächtern in vielen westlichen Gesellschaften?

Koopmans ist weiss Gott nicht der Einzige, der auslässt und umkurvt, was seine Thesen stören könnte. Er versteht sich selber als „ein von der Linken enttäuschter Linker“. Das ist sein gutes Recht. In Integrationsfragen profiliert er sich auch gerne als Hardliner, der von Migranten die volle Anpassungsleistung erwartet, und gefällt sich in der Rolle des Querdenkers, der mit scheinbar ganz sachlichen Datenpaketen den Gottesdienst stört. In seinen medialen Auftritten äussert er sich oft etwas keck und holzschnittartig und weit weniger differenziert als in seinen Veröffentlichungen. Merkels Flüchtlingspolitik qualifiziert er forsch als „eine absolute Fehlleistung“ ab. Die Behauptung, Grenzen liessen sich nicht kontrollieren, sei „einfach Quatsch.“ Und er zieht Bilanz: „Multikulti ist gescheitert!“ Da muss er sich nicht wirklich wundern, wenn er von der falschen (?) Seite Applaus bekommt.

Klar: Man soll Koopmans selbstverständlich lesen, aber kritisch. Und dringend auch andere Autoren und andere Studien zur Thematik, die Koopmans Leerstellen etwas füllen können, etwa den luziden Orientalisten und Schriftsteller Navid Kermani, den Koopmans links liegen lässt. Oder die breit angelegte Bertelsmann-Studie zur Integration muslimischer Einwanderer in Europa, wie sie von der ZEIT rezipiert wurde und die zu ganz andern Zahlen und Interpretationen kommt als Ruud Koopmans. So könnte man vielleicht zu einer ausgewogeneren Basis für die dringend nötige weitere Auseinandersetzung zu diesem gesellschaftlichen Brennpunkt kommen.

Dieser Text ist zuerst erschienen im infosperber.

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