Arbeitsmigranten im Libanon
„Sie räumen als Sklaven die Folgen der Explosion auf.“
Seit Monaten werden die ausländischen Angestellten schon nicht mehr bezahlt. Viele wurden von ihren Arbeitgebern auf die Straße gesetzt, andere befinden sich in Zwangsarbeit. Ihre Botschaften lassen sie im Stich. Sie sitzen im Libanon fest. Nun die Explosion im Hafen von Beirut, bei der über 200 Menschen starben, über 6.000 verletzt und 300.000 Menschen obdachlos wurden. Die Meisten wollen nur noch eins, endlich nach Hause können.
Von Sandra Wolf Donnerstag, 13.08.2020, 12:41 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 13.08.2020, 17:53 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Eine ältere Dame sitzt in ihrem von der Explosion zerstörten Wohnzimmer und spielt das Lied Auld Lang Syne auf dem Klavier. Die Kamera schwenkt langsam und wir sehen das Ausmaß der Zerstörung. Die kaputte, im Wohnzimmer liegende Balkontür, der teppichbedeckte Boden voller Schutt, das kaputte Glas der Innentüren und dahinter die afrikanische Hausangestellte, die dabei ist, aufzuräumen und zu putzen.
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Das Video wurde über tausende Male in sozialen Medien geteilt und von internationalen Medien aufgegriffen. Menschen lieben es, dass die Libanesin das Passierte auf so einem positiven Weg zu verarbeiten scheint. Wie libanesische und andere Nutzer in Instagram und Facebook jedoch hervorheben, wird dabei gerne die afrikanische Hausangestellte übersehen, welche dasselbe Trauma durchgemacht hat, wie die ältere Dame und die Familie, der sie dient. Sie hat jedoch keine Zeit, die Erfahrung zu verarbeiten. Als Haushaltsgegenstand wahrgenommen, muss sie funktionieren wie immer.
„Ausländische Haushaltsangestellte und Flüchtlinge bekommen gerade gar keine Aufmerksamkeit von der libanesischen Politik und Gesellschaft. Die meisten Kafala-Arbeiter als auch die Syrer werden diejenigen sein, die arbeiten und Beirut wieder aufbauen müssen. Viele von ihnen, die sauber machen, vor allem in privaten Häusern, sind ausländische Arbeitskräfte, die nicht bezahlt werden“, sagt Dara Foi’elle, eine syrische Menschenrechtsaktivistin und Mitglied der Hilfsorganisation Syrian Eye.
Bereits vor der Explosion wurden viele der ausländischen Angestellten nicht oder ungenügend bezahlt. Die Wirtschaftskrise, die mit Beginn der Corona-Pandemie sich weiter verschlimmerte, hat das Land schwer getroffen. Die libanesische Lira hat 70 Prozent seines Wertes verloren. 50 Prozent des Libanons ist nun von Armut betroffen. Die Mittelklasse ist förmlich über die letzten Monate verschwunden. Die Arbeitslosenrate ist explodiert, so sind auch die Preise vieler wesentlicher Güter wie Nahrungsmittel und Benzin. Libanon steuert auf eine Hungersnot zu.
„Hausangestellte, die seit Monaten und in einigen Fällen seit Jahren nicht mehr bezahlt werden, haben fast keine Hoffnung mehr, jemals bezahlt zu werden. Sie räumen als Sklaven die Folgen der Explosion auf. […]“, schreibt die Aktivistin Patricia (Pseudonym) von der Hilfsorganisation „This Is Lebanon“.
Unbezahlt, Misshandelt, Ausgesetzt
Bukola sitzt auf dem Boden des kleinen Zwei-Zimmer-Appartements in Beirut, welches sie mit über 25 anderen Frauen teilt. Ihr gegenüber sitzen drei Ärzte in Schutzkleidung. Die 30-jährige Nigerianerin wurde von der Familie, bei der sie als Hausmädchen angestellt war, misshandelt und schließlich ohne Geld auf die Straße gesetzt. Sie kann nicht richtig laufen, spricht nicht und isst kaum etwas. Sie hat Fieber. Vier Tage lang lebte sie auf der Straße, bevor sie Unterschlupf in dem Appartement fand. Durch fehlende Hygiene, hat sie drei schmerzhafte, entzündete Abszesse.
Durch die Ärzte, die sie kostenfrei behandeln, erhält sie endlich die medizinische Versorgung, die sie dringend benötigt und ihr von Krankenhäusern und Privatpraxen verwehrt blieb. „Ihr wurde der Zugang zum Krankenhaus verwehrt, weil sie keinen Pass hat und offensichtlich auch, weil sie schwarz ist“, berichtet Dara Foi’elle.
Foi’elle betreut zusammen mit anderen Aktivist:innen Bukola und die anderen 40 Nigerianerinnen, die wie sie auf die Straße gesetzt wurden oder von ihren zumeist gewalttätigen Arbeitgebern weggerannt sind. „Am Mittwoch nach der Explosion waren es noch 20, jetzt sind es 40.“
Auf engsten Raum ausharrend warten die Frauen zwischen 20 und 50 Jahren darauf, endlich in ihre Heimat zurückkehren zu können. Die Rückkehr wird ihnen jedoch durch mehrere Faktoren erschwert. Zum einen fehlt allen das nötige Geld für ein Flugticket, zum anderen haben über die Hälfte von ihnen keinen Pass. „Viele der Arbeitgeber, wenn man sie so überhaupt bezeichnen kann, meiner Meinung nach sind sie Sklavenhalter, haben die Pässe behalten. […]“, so Foi’elle.
Einige der Arbeitgeber haben die Frauen zudem bei der Polizei wegen Diebstahl angezeigt. Eine gängige Praxis, um ausstehende Gehälter und Rückflugtickets für die Angestellte nicht zahlen zu müssen und sich von jedweder Verantwortung ihr gegenüber freizumachen. Nun scheint diese Taktik auch noch einen anderen Zweck zu dienen: „(…)eine der Madams hat geschrieben: Du hast einen Föhn geklaut, wenn du ihn zurückgibst, dann bekommst du deinen Pass. Das ist nur ein Trick, damit sie zurückkommt und sie sie einsperren können“, meint Foi’elle.
Ein drittes Problem erschwert es ausländischen Angestellten wie den Nigerianerinnen Libanon zu verlassen. Die Frauen befinden sich nun alle illegal im Libanon, da sie durch das Kafala-System an ihren Sponsoren gebunden sind, egal, ob dieser sie bezahlt oder nicht. „Kafala“ bedeutet Sponsoring auf Arabisch. Das Kafala-System bindet den Arbeitnehmer gesetzlich vollständig an den libanesischen „Kafil“ (Deutsch Sponsor), der der Arbeitgeber ist. Die Arbeitnehmer, zumeist Frauen, sind komplett ihren Sponsor ausgeliefert. Sie fallen nicht unter das libanesische Arbeitsrecht und haben keinerlei persönliche Rechte und Freiheiten. Ohne die schriftliche Erlaubnis des Kafils dürfen sie selbst nach Beendigung ihres Arbeitsvertrags nicht das Land verlassen. Sobald sich die Arbeitnehmerin aus dem Haushalt des Kafils entfernt, wenn auch gegen ihren Willen, ändert sich ihr Status zu Illegal und sie kann verhaftet werden.
Ohne gültige Ausreiseerlaubnis dürfen die Frauen daher das Land nicht verlassen. Diese wird jedoch nur von der General Security des Auswärtigen Amts Libanons ausgestellt. Das Gebäude des Auswärtigen Amts ist derzeit jedoch durch Demonstranten besetzt. Die Regierung von Premierminister Hassan Diab ist zudem am Montag zurückgetreten. Ohne funktionierende Regierung ist es fraglich, wann sie die nötige Ausreiseerlaubnis erhalten können.
„Die Selbstmordrate steigt“
Bukolas Schicksal teilen viele, der im Libanon festsitzenden Arbeitsmigrant:innen. Bereits vor der Explosion wurden Hunderte mit ihren Koffern vor ihren jeweiligen Botschaften ausgesetzt. Wenn sie nicht auf die Straße gesetzt wurden, dann befinden sie sich in Zwangsarbeit. „Hausangestellte im Libanon wurden ihren Sklavenhaltern überlassen. Die Selbstmordrate steigt“, sagt Patricia (TIL).
Bereits vor der Corona-Krise starben im Libanon nach offiziellen Aussagen des Geheimdienstes der General Security zwei Arbeitsmigrantinnen pro Woche. Häufigste Todesursache Suizid. NGOs und Anti-Kafala Aktivist:innen vermuten hinter einigen der offiziell benannten Suizide jedoch Mord. Zudem sei die Zahl der Todesfälle wesentlich höher als angegeben. Stirbt eine Hausangestellte, gibt es laut This Is Lebanon keine richtige, polizeiliche Untersuchung. Das Wort des libanesischen Arbeitgebers gilt.
In den vergangenen Monaten gab es zudem mehrere Vorfälle bei denen Libanesen versucht haben über Online-Inserate und Posts in Sozialen Medien ihre Hausangestellten zu verkaufen. In einen der Posts vom April stand auf Arabisch „1000 US-Dollar. Afrikanische Hausangestellte zum Verkauf (Nigerianerin) mit neuer Aufenthaltserlaubnis und gültigen Papieren. 30 Jahre alt. Aktiv und sehr sauber.“
Hilfsorganisationen und Aktivist:innen fordern unverzügliche Repatriierung
Nach der Explosion im Hafen Beiruts Anfang August, bei der über 200 Menschen starben, über 6000 verletzt und 300.000 Menschen obdachlos wurden, ist zu erwarten, dass sich die Situation der ausländischen Arbeitskräfte nur noch verschlimmert. Hilfsorganisationen und Aktivist:innen rufen die Regierungen dazu auf, umgehend und unbürokratisch ihre Staatsbürger:innen nach Hause zu holen.
Die meisten Botschaften bieten den Arbeitsmigrantinnen nach wie vor keine Unterstützung. Wie „This Is Lebanon“ berichtet hat die kenianische Botschaft Polizei vor ihre Türen postiert, um die Bürger ihres eigenen Landes daran zu hindern bei ihnen Schutz zu suchen. Dies passiert kurz nachdem ein investigativer Report von CNN dem Konsulat Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen hatte.
Andere Botschaften wie die äthiopische Botschaft verlangen horrende Summen für Flugtickets. Verschiedene Hilfsorganisationen wie „Egna Legna“, „Anti-Racism Movement“ und „This Is Lebanon“ nebst anderen, sowie private Aktivist:innen versuchen daher Gelder aufzutreiben und unterstützen die Frauen bei allen nötigen Schritten, um ihnen die Rückkehr in ihre Länder zu ermöglichen.
Einige der Frauen sind kreativ geworden. Eine Gruppe von Arbeiterinnen aus Sierra Leone hat die Band Thewanthdean (Eine Schwesternschaft) gegründet und den Song „Bye and Bye“ aufgenommen. In dem Lied erzählen die Frauen ihren fiktiven Enkeln von ihrem harten Leben und den Misshandlungen, die sie im Libanon erfahren haben. Sie versuchen auf diesem Weg auf ihre Situation aufmerksam zu machen und das nötige Geld zum Überleben und für die Flugtickets zu sammeln.
Aktivist:innen fordern die Abschaffung des Kafala Systems
Seit einem Jahrzehnt fordern libanesische und internationale Organisationen und Aktivist:innen die Abschaffung des Kafala-Systems, welches Rassen- und Klassendiskriminierung rechtfertigt. Der Arbeitsminister Camille Abousleiman hatte 2019 öffentlich anerkannt, dass das Kafala-System Moderne Sklaverei ist. Jedoch sah er dies nicht als ausreichenden Grund an, selbiges abzuschaffen.
Die größere Medienberichtserstattung, die durch das Schicksal der vor den Botschaften ausgesetzten Frauen zustande kam, gibt nun Hoffnung, dass sich internationaler Druck auf die libanesische Regierung aufbaut.
Einen anderen Weg die Abschaffung des Kafala-Systems zu erreichen, sieht der Nepalese Dipendra Upreti, Mitbegründer von This Is Lebanon, und selbst ehemaliger Arbeiter im Libanon, in der finanziellen Krise, in der sich das Land befindet: „Libanon hat sich für internationale, humanitäre Hilfe beworben. Die internationale Gemeinschaft sollte diese Hilfe nur unter der Bedingung gewähren, dass Libanon das Kafala-System abschafft und die Rechte von Arbeitsmigranten gewährleistet und alle Menschen als gleich ansieht. Sonst gibt es keine Hoffnung.“
Der Libanon hatte Monate vor der Explosion versucht, einen Kredit in Höhe von 10 Mrd. USD vom Internationalen Währungsfond zu erhalten, aber die Gespräche wurden letzten Monat unterbrochen. Nach der verheerenden Explosion könnten diese nun wieder aufgenommen werden. Ausland Leitartikel
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